Demokratische Volksrepublik Algerien
Berichtszeitraum | 1.1.2024 – 31.12.2024 |
Englischer Originaltext | Algeria |
Weitere Online-Dokumente von Amnesty International Deutschland | Algerien |
Die Behörden verengten weiterhin den zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum, indem sie rigoros die Rechte auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Vereinigung beschnitten. Auch im Berichtszeitraum dienten unbegründete Anklagen wegen Terrorismus dazu, friedlich geäußerte abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen, z.B. gegen politische Aktivist*innen, Journalist*innen, Gewerkschafter*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen. Die Strafen wegen irregulärer Ausreise aus Algerien wurden erhöht, Beihilfe zur irregulären Ausreise kann jetzt mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. Mindestens 31.404 Geflüchtete und Migrant*innen wurden summarisch nach Niger abgeschoben. Vorwürfen von Folter and anderen Misshandlungen gingen die Behörden nicht nach. Aus der Zivilgesellschaft wurden mindestens 48 Femizide gemeldet Es gab nach wie vor keine umfassende offizielle Statistik geschlechtsspezifischer Gewalt. Eine langanhaltende, klimabedingte Dürre wirkte sich nachteilig auf die Menschenrechtslage aus. Die Behörden leiteten Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation ein; die Inflation bei den Lebensmittelpreisen blieb trotz Abschwächung auf hohem Niveau.
Hintergrund
Am 7. September fanden vorgezogene Präsidentschaftswahlen statt. Nach Angaben des Verfassungsgerichts wurde Präsident Abdelmadjid Tebboune mit 84,3% der Stimmen wiedergewählt; die Wahlbeteiligung lag bei 46,1% der Wahlberechtigten.
Nachdem die Behörden eine Revision der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vorgenommen hatten, stufte die Weltbank die Volkswirtschaft Algeriens hoch, aus dem unteren in den oberen Bereich der Länder mit mittlerem Einkommen.
Nach Angaben der Initiative „World Weather Attribution“ war die extreme Hitzewelle im Juli 2024 in Algerien wie im gesamten Mittelmeerraum auf den Klimawandel zurückzuführen.
Unterdrückung abweichender Meinungen
Politische Aktivist*innen
Die Behörden schränkten weiterhin die Rechte auf friedliche Versammlung und Vereinigung von Mitgliedern politischer Parteien der Opposition ein und verhafteten und verfolgten politisch oppositionelle Aktivist*innen wegen der Ausübung ihrer Menschenrechte.[1] Im August unterstellten die Justizbehörden politische Aktivist*innen einer gerichtlichen Überwachung unter missbräuchlichen Bedingungen, einschließlich eines Verbots aller Veröffentlichungen, Medienauftritte und politischen Aktivitäten.
Recht auf friedliche Versammlung und auf Vereinigungsfreiheit
Die Behörden zeigten sich weiterhin äußerst intolerant gegenüber friedlichen Versammlungen und anderen Zusammenkünften. Im Laufe des Jahres verhinderten die Sicherheitskräfte mindestens drei Menschenrechts- und Kulturveranstaltungen und nahmen mindestens 64 Menschen fest, die versuchten, friedliche Zusammenkünfte zu organisieren.
Im März brachte der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) seine tiefe Besorgnis angesichts der vielfältigen Schwierigkeiten zum Ausdruck, mit denen führende Vertreter des Gewerkschaftsbundes der Produktivkräfte (COSYFOB) und der ihm angeschlossenen Organisationen bei der Wahrnehmung ihrer gewerkschaftlichen Rechte und des Rechts auf Vereinigungsfreiheit konfrontiert waren und noch sind.
In einem Bericht vom Mai erklärte der UN-Sonderberichterstatter zu Versammlungs- und Organisationsfreiheit, die Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten in Algerien habe „eine abschreckende Wirkung und ein Klima der Angst geschaffen, was zu einer schwerwiegenden Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Raumes geführt“ habe.
Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte
Weiterhin war die Verwendung vage formulierter und unbegründeter Terrorismusanklagen zur Unterdrückung von friedlichem Dissens weit verbreitet. Der Aktivist und Dichter Mohamed Tadjadit wurde nach seiner Festnahme am 29. Januar wegen „Terrorismus“ angeklagt und für neun Monate willkürlich inhaftiert.[2] Am 28. März erging gegen den Gewerkschaftsführer Hamza Kherroubi, den Vorsitzenden der Algerischen Industriegewerkschaft (UAI, der COSYFOB angeschlossen), ein Unrechtsurteil von 20 Jahren Gefängnisstrafe aufgrund haltloser Anklagen wegen Terrorismus.
Freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit
Am 28. April ratifizierte der Präsident das Gesetz 24-06 zur Änderung und Ergänzung des Strafgesetzbuchs. Dieses Gesetz enthält zahlreiche äußerst weit gefasste und vage formulierte Änderungen und neue Bestimmungen, mit deren Hilfe Aktivitäten, welche durch internationale Menschenrechtsnormen geschützt sind, leichter kriminalisiert werden können. Das Gesetz könnte zu verstärkter Selbstzensur führen und die freie und offene Diskussion von Themen verhindern, die für die Öffentlichkeit relevant sind.
Die Behörden beschränkten weiterhin die Arbeit von Journalist*innen durch willkürliche Verhaftungen und Strafverfolgungen sowie durch die Sanktionierung unabhängiger Medien ohne rechtliche Grundlage. Am 13. Juni bestätigte das Berufungsgericht in Algier die willkürliche Auflösung der Mediengruppe Interface Medias, nachdem deren Direktor und Gründer Ihsane El Kadi aufgrund haltloser, vage formulierter Anklagen im Juni zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden war.[3] Am 1. November kam Ihsane El Kadi im Rahmen einer Begnadigung von 4.000 Gefangenen durch den Präsidenten frei; unter den Freigelassenen befanden sich auch der Aktivist Mohamed Tadjadid (s.o.), der Menschenrechtsverteidiger Mohan Gasmi und mindestens 20 weitere, willkürlich inhaftierte Aktivist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen.
Die Behörden verhängten oder hielten willkürliche Reiseverbote und weitere Beschränkungen gegen Aktivist*innen, Rechtsanwält*innen, Gewerkschafter*innen und Journalist*innen aufrecht, um diese Personen an der Ausübung ihrer Menschenrechte zu hindern, einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung.
Rechte von Frauen und Mädchen
Das Strafgesetzbuch und das Familienrecht diskriminierten Frauen nach wie vor unzulässig in den Bereichen Erbschaft, Heirat, Scheidung, Sorgerecht und Vormundschaft. Frauenrechtsgruppen forderten weiterhin die Aufhebung diskriminierender Bestimmungen.
Die Aktivist*innen der Gruppe „Femizide Algerien“ (Féminicides Algérie) registrierte bis zum 23. Dezember mindestens 48 Femizide. Umfassende offizielle Statistiken über geschlechtsspezifische Gewalt lagen nicht vor. Es besteht die Besorgnis, dass viel zu wenig berichtet wird aufgrund der gesellschaftlichen Stigmatisierung, der Untätigkeit der Polizei, der begrenzten Zahl von Schutzunterkünften, der Angst vor weiterem Missbrauch sowie anderer Hindernisse, mit denen Mädchen und Frauen bei der Suche nach Schutz und Gerechtigkeit konfrontiert sind.
Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI)
Das Strafgesetzbuch stellte einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen weiterhin unter Strafe und ahndete sie mit Freiheitsentzug von bis zu zwei Jahren und einer Geldstrafe.
Recht auf Freizügigkeit
Mit dem Gesetz 24-06 wurde die Höchststrafe für die irreguläre Ausreise aus Algerien von sechs Monaten auf drei Jahre Freiheitsentzug angehoben. Der neu eingeführte Paragraph 175a, Absatz 1 sieht jetzt eine Strafe von bis zu fünf Jahren Haft vor für „jede Person, die direkt oder indirekt eine irreguläre Ausreise erleichtert oder versucht zu erleichtern“.
Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
Nach Angaben der Organisation Alarm Phone Sahara schob Algerien im Laufe des Jahres mindestens 31.404 Flüchtlinge und Migrant*innen summarisch und kollektiv nach Niger ab.
Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit
Die Behörden griffen weiterhin auf die gesetzliche Verordnung 06-3 zurück, welche alle Religionen außer dem sunnitischen Islam diskriminiert, und verletzte damit die Rechte von Nicht-Muslim*innen aufgrund der Ausübung ihres Glaubens, auch durch Strafverfolgung.
Nach Angaben der Protestantischen Kirche von Algerien blieben 46 ihrer 47 Kirchen geschlossen, entweder aufgrund gerichtlicher Schikanen oder auf behördliche Anordnung.
Folter und andere Misshandlungen
Die Justiz- und Sicherheitsbehörden ignorierten weiterhin die Vorwürfe von Gefängnisinsassen über Folter und andere Misshandlungen.
Die Behörden leiteten auch keine Untersuchung ein, nachdem der Journalist Merzoug Touati am 12. August eine Beschwerde eingereicht hatte. In dieser gab er an, er sei von Polizeibeamten in der nordöstlichen Stadt Bejaia gefoltert und anderweitig misshandelt worden, weil man wissen wollte, wo sich sein Telefon befand; u.a. sei ihm im Polizeigewahrsam sexualisierte Gewalt angedroht worden.
Algerien versäumte es erneut, dem UN-Ausschuss gegen Folter seinen vierten regelmäßigen Bericht vorzulegen, der 2012 fällig gewesen wäre.
Recht auf eine gesunde Umwelt
In einem Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission vom Januar wurden die Auswirkungen der klimabedingten, anhaltenden und schweren Dürreperioden im Mittelmeerraum einschließlich Algeriens herausgestellt. Sie hatten negative Auswirkungen auf Landwirtschaft, Ökosysteme und die Verfügbarkeit von Trinkwasser sowie auf die Energieerzeugung und das erhöhte Risiko von Buschbränden.
Um der Dürre zu begegnen, kündigte Algerien am 8. Februar ein Programm zur Sanierung mehrerer Kläranlagen an, mit dem erklärten Ziel, 60% des Wassers für die landwirtschaftliche Bewässerung aus wieder aufbereitetem Abwasser zu gewinnen.
Am 8. Juni kam es in der nordwestlichen Region Tiaret nach monatelanger Wasserknappheit und -rationierung aufgrund der Dürre zu Protesten. Die Regierung entließ die lokalen Beamten, die sie für Misswirtschaft verantwortlich machte, schickte Tankwagen und kündigte den Bau einer Wasserleitung an.
Algerien gehört nach wie vor zu den neun Ländern, die weltweit am meisten Gas abfackeln. Das Abfackeln von Gas setzt Treibhausgasemissionen frei und stellt ein Gesundheitsrisiko für die umliegenden Ansiedlungen dar. Im Juni meldete die Weltbank, dass die Menge des in Algerien abgefackelten Gases im Vorjahresvergleich um 5 % und die Intensität des Abfackelns um 3 % gesunken seien; die algerische Ölproduktion lag um 2 % niedriger als im Vorjahr.
Wirtschaftliche und soziale Rechte
Am 1. Juli verurteilte ein Gericht den zivilgesellschaftlichen Aktivisten Rabah Kadri zu Unrecht zu einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung, einer Geldstrafe und der Zahlung von Schadensersatz im Zusammenhang mit seinen TikTok-Posts, in denen er die sozioökonomischen Bedingungen in Algerien kritisiert und einen politischen Wandel gefordert hatte.
Die Inflation der Lebensmittelpreise verlangsamte sich, blieb aber mit fast 5 % weiterhin hoch und bedrohte das Recht auf Nahrung, Gesundheit und Wohnung für die ärmsten Bevölkerungsschichten. Nach Angaben der Weltbank verbrauchen die ärmsten 40 % der Bevölkerung mehr als die Hälfte ihrer Haushaltsausgaben für Lebensmittel.
Mit dem Haushalt 2024 wurden Steuerbefreiungen für den Verkauf und die Einfuhr verschiedener Lebensmittel eingeführt, die Gehaltstabelle für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes um etwa 15 % erhöht und die Beihilfen für Studenten, Menschen mit Behinderungen und Arbeitslose angehoben. Im April kündigten die Behörden einen neuen, staatlich geförderten Arbeitsvertrag für Arbeitslose und im Mai eine Erhöhung der Rentenleistungen um 10 bis 15 % an.
Algerien hatte dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte noch keinen fünften periodischen Bericht vorgelegt, der 2015 fällig gewesen wäre.
[1] “Algeria: Authorities must halt ongoing repression of civic space ahead of presidential elections”, 2 September ↑
[2] “Algeria: Authorities must drop bogus charges against Hirak activist Mohamed Tadjadit”, 17 July ↑
[3] Algeria: Further Information: Journalist’s Sentence Confirmed on Appeal: Ihsane El Kadi, 16 January ↑