Bosnien und Herzegowina
Berichtszeitraum | 1.1.2024 – 31.12.2024 |
Englischer Originaltext | Bosnia and Herzegovina |
Weitere Online-Dokumente von Amnesty International Deutschland | Bosnien und Herzegowina |
Die Kriminalisierung von Verleumdung in der serbischen Teilrepublik (Republika Srpska) und die zunehmend restriktiveren Maßnahmen im ganzen Land spiegeln sich in einer deutlich schlechteren Platzierung auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit wider. Rom*nja und Rückkehrende aus dem Bosnienkrieg waren weiterhin weit verbreiteter Diskriminierung ausgesetzt. Die Aufnahmebedingungen für Migrant*innen und Geflüchtete haben sich verbessert. Die Leugnung des Völkermords und die Verherrlichung verurteilter Kriegsverbrecher*innen hielten an.
Hintergrund
Bosnien und Herzegowina ist weiterhin tief gespalten und politisch instabil. Im Mai beschloss die Republika Srpska, ein Abkommen über die “friedliche Loslösung” vom Landesteil Föderation Bosnien und Herzegowina auszuarbeiten, und verabschiedete Gesetze zur Schaffung paralleler rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen, die gegen die Verfassung von Bosnien und Herzegowina verstoßen. Der Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen in Bosnien und Herzegowina, Christian Schmidt, beschuldigte die Behörden der Republika Srpska, den Staat weiterhin “aktiv zu untergraben”.
Im März eröffnete die EU die Beitrittsverhandlungen mit Bosnien und Herzegowina – ein wichtiger Meilenstein, auch wenn es bei den wichtigsten Reformen keine Fortschritte gab. Da die Behörden den Entwurf der Reformagenda 2024-2027 nicht angenommen haben, ist Bosnien und Herzegowina das einzige Land des westlichen Balkans, das nicht am Wachstumsplan der EU teilnimmt.
Bei den Kommunalwahlen im Oktober konnten die großen nationalen Parteien die meisten Kommunalparlamente für sich gewinnen, während die Oppositionsparteien in den städtischen Zentren erfolgreicher waren.
Nach einer langanhaltenden Hitzewelle im Sommer verursachten im Oktober beispiellose sintflutartige Regenfälle Überschwemmungen und Erdrutsche, bei denen 26 Menschen ums Leben kamen und Hunderte von Häusern in mehreren Gemeinden des Landes zerstört wurden.
Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit
Journalist*innen waren häufig Zielscheibe von verbalen Drohungen und Angriffen, auch durch öffentliche Bedienstete.
Im Januar traten Änderungen des Strafgesetzbuchs der Republika Srpska in Kraft, die Verleumdung als Straftatbestand einstufen.
Eine Medienuntersuchung im Juni ergab, dass die jüngsten Gesetzesänderungen und zunehmend restriktivere Maßnahmen, die unter dem Vorwand der Bekämpfung von Desinformation eingeführt wurden, die Meinungsfreiheit, insbesondere in den sozialen Medien, sowohl in der Republika Srpska als auch in der Föderation Bosnien und Herzegowina eingeschränkt haben.
Im April forderte der UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit die Behörden auf, restriktive Gesetze und Praktiken, die den zivilen Raum, den sozialen Zusammenhalt und die demokratischen Institutionen bedrohen, dringend rückgängig zu machen.
Proteste zur Unterstützung Palästinas fanden das ganze Jahr über ohne Einschränkungen statt.
Im Mai zog die Regierung der Republika Srpska ihr umstrittenes Gesetz über die besondere Registrierung und Bekanntmachung der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen aus dem parlamentarischen Verfahren zurück. Dieses Gesetz hätte gemeinnützige Organisationen verpflichtet, sich in ein Sonderregister einzutragen, sie einer verstärkten Rechtsaufsicht unterworfen und sie möglicherweise als “Agenten ausländischer Einflussnahme” eingestuft. Der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, erklärte, das Gesetz werde nach einer “weiteren Harmonisierung” mit europäischen Standards wieder eingeführt werden.
In der von Reporter ohne Grenzen veröffentlichten weltweiten Rangliste der Pressefreiheit ist Bosnien und Herzegowina von Platz 64 auf Platz 81 zurückgefallen.
Diskriminierung
Diskriminierende Bestimmungen in der Verfassung und den Wahlgesetzen auf staatlicher Ebene verweigerten Menschen, die sich nicht als Angehörige eines der “konstituierenden Völker” des Landes (Bosniak*innen, Kroat*innen oder Serb*innen) identifizierten, weiterhin eine angemessene politische Vertretung.
Es gab keine Fortschritte bei der Umsetzung früherer Urteile und Empfehlungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der die Machtaufteilung in dem Land als diskriminierend eingestuft hatte.
Rom*nja waren weiterhin mit sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung konfrontiert. Die meisten von ihnen lebten in chronischer Armut in unangemessenen Unterkünften und hatten nur begrenzten Zugang zu formeller Beschäftigung oder öffentlichen Dienstleistungen, einschließlich Gesundheitsversorgung und Bildung. Der UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD) forderte die Behörden auf, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um die systematische rassistische Diskriminierung der Rom*nja zu bekämpfen.
In der Föderation Bosnien und Herzegowina wurde das seit langem bestehende System der “zwei Schulen unter einem Dach”, d. h. getrennte Schulen im selben Gebäude mit getrennten Lehrplänen für bosniakische und kroatische Schüler*innen, trotz mehrerer Gerichtsurteile, die diese Praxis als Diskriminierung einstuften, beibehalten.
Im Vorfeld des 11. Juli, dem Gedenktag an die Ereignisse in Srebrenica im Jahr 1995, kam es vermehrt zu gewalttätigen Übergriffen gegen Rückkehrende und Binnenvertriebene aus dem Bosnienkrieg von 1992 bis 1995. Auch der Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge, sozialem Schutz und Beschäftigung war für Rückkehrende weiterhin eingeschränkt.
Gewalt gegen Frauen und Mädchen
Geschlechtsspezifische Gewalt war nach wie vor weit verbreitet: Mindestens 11 Frauen wurden von einem Partner oder einem Familienmitglied getötet.
Im Juni verabschiedete das Parlament der Föderation Bosnien und Herzegowina eine Strategie zur Prävention und Bekämpfung von häuslicher Gewalt 2024-2027. Sie zielt darauf ab, die Maßnahmen zur Gewaltprävention zu verstärken, die Unterstützung für Opfer und Überlebende zu verbessern und Programme für die Arbeit mit Tätern einzurichten.
Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen
Im August kenterte ein Boot mit 30 Geflüchteten und Migrant*innen, hauptsächlich aus Syrien, auf der Drina an der Grenze zu Serbien, wobei mindestens elf Menschen, darunter ein neun Monate altes Baby, ums Leben kamen.
Die Behörden haben die Unterbringungsbedingungen für Migrant*innen und Geflüchtete in den Aufnahmezentren erheblich verbessert, doch der CERD-Ausschuss äußerte sich besorgt über die fortgesetzte administrative Inhaftierung von Migrant*innen, einschließlich Kindern.
Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung
Im Mai nahm die UN-Vollversammlung eine Resolution an, in der der 11. Juli zum Internationalen Tag des Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica 1995 erklärt wurde.1 Politiker in der Republika Srpska leugneten weiterhin öffentlich den Völkermord und Kriegsverbrechen und verherrlichten verurteilte Kriegsverbrecher*innen. Der CERD-Ausschuss forderte die Behörden in Bosnien und Herzegowina auf, alle Vorfälle von Hassrede zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen.
Die Gerichte in der Republika Srpska wendeten weiterhin Verjährungsfristen an, die viele zivilrechtliche Entschädigungsansprüche von Opfern von Kriegsverbrechen, insbesondere in Fällen sexueller Gewalt, verjähren ließen, und verlangten von den Opfern die Übernahme der Gerichtskosten, wenn ihre Anträge abgewiesen wurden.
Mehr als 7.500 Menschen blieben infolge des Bosnienkriegs vermisst.