Republik Chile
Berichtszeitraum | 1.1.2024 – 31.12.2024 |
Englischer Originaltext | Chile |
Weitere Online-Dokumente von Amnesty International Deutschland | Chile |
Trotz der bisher einmaligen Verurteilung zweier Mitglieder der Carabineros wegen Menschenrechtsverletzungen, die während der Proteste 2019 begangen wurden, herrschte Straflosigkeit, und es wurde kein Gesetzentwurf zur Wiedergutmachung vorgelegt. Beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen gab es weiterhin Hürden. Die Bedingungen für schwangere Inhaftierte waren nach wie vor mangelhaft. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Anwendung von Gewalt wurden geändert. Der Kongress diskutierte weiterhin Gesetzesentwürfe, die die Kriminalisierung von Flüchtlingen und Migrant*innen vorsehen. Die Inhaftierung Indigener Frauen auf Grund des Verkaufs von Produkten auf öffentlichen Plätzen wurde fortgesetzt. Die Gesichtserkennungstechnologie wurde ohne einen klaren Rechtsrahmen eingeführt.
Hintergrund
Im Februar unterzeichnete Chile das Abkommen von Ljubljana-Den Haag 2023 über die internationale Zusammenarbeit bei der Untersuchung und Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und anderen internationalen Verbrechen.
Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung
Im August wurden erstmals zwei Angehörige der Carabineros (Polizeikräfte) wegen Folterungen eines Demonstranten während der Proteste 2019 verurteilt. Das Strafverfahren wegen der von Gustavo Gatica erlittenen Augenverletzungen wurde fortgesetzt. Im Oktober wurde gegen drei Mitglieder des ehemaligen Oberkommandos der Carabineros Anklage erhoben, weil sie es versäumt hatten, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, die von ihren Untergebenen während der Proteste begangen worden waren. Trotz dieser Entwicklungen blieb die Straffreiheit für die in diesem Zeitraum begangenen Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsverbrechen bestehen, und mehrere politische Instanzen stellten das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, insbesondere im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen das ehemalige Oberkommando der Carabineros, zu Unrecht in Frage.
Die Regierung hob pensiones de gracia[1] auf, die Opfern der während der Proteste begangenen Menschenrechtsverletzungen gewährt worden waren, wenn die Begünstigten für Straftaten vor diesem Zeitraum verurteilt worden waren. Trotz der ausführlichen Schlussfolgerungen des Runden Tisches für umfassende Wiedergutmachung, die der Regierung übermittelt wurden, wurde kein Gesetzentwurf zur Entschädigung der Opfer von Menschenrechtsverletzungen während der Proteste vorgelegt.
Im August gab es Beschwerden über mögliche schwerwiegende Unregelmäßigkeiten bei der Umsetzung des Nationalen Suchplans für die während des Regimes von Augusto Pinochet (1973-1990) vom Verschwindenlassen betroffenen Personen. Die Unregelmäßigkeiten betrafen die für die Suche nach inhaftierten Verschwundenen verwendete Software. Daraufhin trat einer der wichtigsten Experten zurück, und Familienangehörige der Verschwundenen äußerten ihre Besorgnis über die Situation. In der Zwischenzeit wurden die Maßnahmen, die den dauerhaften Ablauf des Planes sicherstellen sollten, nicht genehmigt. Die begrenzte Unterstützung der Regierung für Gedenkstätten aus dieser Zeit gab weiterhin Anlass zur Sorge, und ihre Fortsetzung war gefährdet.
Sexuelle und reproduktive Rechte
Beim Zugang zu Diensten für Schwangerschaftsabbrüche gab es in staatlichen Gesundheitseinrichtungen weiterhin Hürden, selbst wenn der Abbruch legal war. Gesundheitseinrichtungen und Fachkräfte weigerten sich aufgrund ihrer moralischen oder religiösen Ansichten, Abbrüche vorzunehmen, wodurch das Recht der Schwangeren auf Zugang zu Diensten für Schwangerschaftsabbrüche untergraben wurde. In fünf öffentlichen Krankenhäusern weigerten sich alle Geburtshelfer*innen, Schwangerschaften nach einer Vergewaltigung abzubrechen, was einer Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen könnte.
Im Mai legte die Regierung Änderungen an den Vorschriften zu Diensten für Abbrüche vor. Die vorgeschlagenen Änderungen zielten darauf ab, Gesundheitseinrichtungen zu verpflichten, Listen von Fachkräften zu führen, die sich aufgrund ihrer moralischen oder religiösen Ansichten geweigert haben, rechtmäßige Leistungen für Schwangerschaftsabbrüche zu erbringen, und die Umstände anzugeben, unter denen sie sich weigerten, an Abbruchsverfahren teilzunehmen. Die Vorschläge sahen ferner vor, dass die Patient*innen über die Weigerung einer medizinischen Fachkraft, aus moralischen oder religiösen Gründen rechtmäßige Leistungen für Schwangerschaftsabbrüche zu erbringen, informiert werden müssen, sofern dies der Fall ist. Im Dezember hatte der Generaldirektor des Rechnungshofs die geänderten Vorschriften noch nicht genehmigt.
Im Juni verpflichtete sich der Präsident, dem Kongress noch vor Jahresende einen Gesetzesentwurf zum legalen Schwangerschaftsabbruch vorzulegen, kam dieser Verpflichtung jedoch nicht nach.
Im Januar brachte eine Frau im Strafvollzugszentrum Iquique in einer der Haftzellen der Einrichtung ein Kind zur Welt. Das chilenische Komitee zur Verhütung von Folter (Comité para la Prevención de la Tortura) erklärte, dass dieses Ereignis auf wichtige und dringende Probleme aufmerksam mache, die sofortige Maßnahmen erforderten, und auch die Notwendigkeit aufzeigten, die Schwangerschaftsvorsorge für schwangere Häftlinge zu verbessern und den Zugang zu angemessener Ernährung sowie die ständige Anwesenheit von qualifiziertem Personal zur Geburtshilfe zu gewährleisten.
Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit
Die Behörden verlangten weiterhin eine vorherige Genehmigung für öffentliche Versammlungen auf öffentlichen Plätzen und zwangen die Demonstrant*innen, diese anzumelden. Ihr Recht auf Versammlungsfreiheit wurde somit Schranken unterworfen. Der Kongress hat es das ganze Jahr über versäumt, die Abschaffung der Pflicht zur vorherigen Genehmigung zu diskutieren.
Exzessive und unnötige Gewaltanwendung
Der Kongress diskutierte weiter über einen Gesetzesentwurf zur Regelung der Gewaltanwendung durch Sicherheitsbeamte, der die derzeitigen Protokolle und Vorschriften des Innenministeriums (Ministerio del Interior y Seguridad Pública) und des Verteidigungsministeriums (Ministerio de Defensa Nacional) gesetzlich verankert. Es gab Bedenken wegen der mangelnden Klarheit der Vorschläge zur Regelung der Gewaltanwendung[2] und ihrer bevorstehenden Verabschiedung.
Obwohl die Carabineros seit 2019 und die Gendarmería (Strafvollzugspolizei) seit 2024 Elektroschockwaffen mit Projektilen erhalten, hatte das Innenministerium keine Vorschrift für den korrekten Einsatz dieser Waffen erlassen. Es wurde kein genehmigter Einsatz dieser Waffe registriert, doch wurde ein Pilotprojekt angekündigt, das gegen Ende des ersten Quartals 2025 durchgeführt werden soll.
Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
Während des gesamten Jahres diskutierte der Kongress weiterhin Gesetzentwürfe, die die Kriminalisierung von Flüchtlingen und Migrant*innen vorsehen. Besonders besorgniserregend war der Vorschlag, Personen, die sich der illegalen Einreise oder des illegalen Aufenthalts im Lande schuldig gemacht haben, mit Gefängnisstrafen zu belegen.
Im September erklärte die Rentenaufsichtsbehörde, dass venezolanische Arbeitnehmer*innen in Chile ihre Rentengelder nicht abheben könnten, weil es nicht möglich sei, die Gültigkeit der erforderlichen Unterlagen zu überprüfen. In der Zwischenzeit gab es weiterhin fremdenfeindliche Äußerungen und Angriffe gegen venezolanische Flüchtlinge in der Öffentlichkeit und von einigen Personen des öffentlichen Lebens.
Rechte Indigener Völker
Carabineros und andere Vollzugsbehörden nahmen weiterhin Indigene Frauen fest, weil sie ihre Produkte im öffentlichen Raum verkauften, was für die Ausübung ihrer angestammten Traditionen und kulturellen Rechte erhebliche Hürden bedeutete. Ein besonders beunruhigender Fall betraf die Festnahme und das Anlegen von Handschellen bei einer Aymara-Frau in Pica, einer Gemeinde in der Region Tarapacá im Norden Chiles, wegen des Verkaufs von Kokablättern. Sie wurde später freigelassen, nachdem ihre Verteidigung argumentiert hatte, dass diese Tätigkeit eine kulturelle und traditionelle Praxis des Aymara-Volkes sei.
Massenüberwachung
Die Gesichtserkennungstechnologie wurde zu polizeilichen Zwecken eingesetzt, ohne dass ein klarer und eindeutiger Rechtsrahmen geschaffen wurde, der ihre Grenzen festlegt.
Ein Gesetzentwurf zur Regelung der Erhebung personenbezogener Daten wurde angenommen, seine Umsetzung steht noch aus.
Im Dezember wurden Änderungen der Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die den Einsatz von Technologien zum Abhören von Nachrichten, Anrufen, Metadaten und Massen-Georeferenzierung ermöglichen, ohne dass angemessene Schutzmaßnahmen für die Verwendung dieser Technologien und den Zugang zu ihnen vorgesehen sind.
[1] Bill for the Regulation of the Use of Force, 4 June (Spanish only)↑