Kanada
Berichtszeitraum | 1.1.2024 – 31.12.2024 |
Englischer Originaltext | Canada |
Weitere Online-Dokumente von Amnesty International Deutschland | Kanada |
Systemischer Rassismus und Diskriminierung gegen Schwarze und rassifizierte Menschen hielten an. Indigene Two-Spirit, lesbische, schwule, bisexuelle, trans, queer, fragende, intergeschlechtliche und asexuelle Menschen (2SLGBTQQIA+) waren Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Indigene Landverteidiger*innen wurden kriminalisiert, weil sie ihr angestammtes Territorium verteidigten, die Gewalt gegen Indigene Frauen hielt an und das Schicksal Indigener Kinder blieb ungelöst. Die Rechte von Migrant*innen und Flüchtlingen wurden verletzt. Kanada hat die Emissionsziele nicht erreicht.
Diskriminierung
Zwischen dem 29. August und dem 27. September wurden in ganz Kanada neun Indigene Menschen bei verschiedenen Zwischenfällen von der Polizei getötet, was einen systemischen Rassismus und Diskriminierung in Polizeieinrichtungen deutlich macht.
Der Court of Appeal for Saskatchewan verhandelte im September darüber, ob eine Verfassungsbeschwerde gegen ein diskriminierendes Gesetz über Namen und Pronomen zulässig ist. Es richtet sich gegen Transgender und geschlechtsspezifische Vielfalt von Schüler*innen. Das Gericht befasste sich mit der Frage, ob ein Gesetz auch dann für verfassungswidrig erklärt werden kann, wenn die Unberührtheitsklausel in Kraft ist. Diese hindert die Gerichte daran, Gesetze aufzuheben, die gegen die kanadische Charter of Rights and Freedoms verstoßen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen brachten ihre Enttäuschung über die im Juni angekündigte kanadische Invalidenrente zum Ausdruck und forderten die Bundesregierung auf, sich dringend mit der Armutskrise von Menschen mit Behinderungen zu befassen.
Der Supreme Court of Canada hat im November über eine Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze entschieden, die Sexarbeit und damit verbundene Tätigkeiten kriminalisieren.
Im November entschied der Federal Court über einen Antrag auf Zulassung einer Sammelklage von derzeitigen und ehemaligen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Dieser richtete sich gegen die Regierung aufgrund rassistischer Diskriminierung bei der Einstellung von Schwarzen Menschen.
Rechte von 2SLGBTQQIA+ Menschen
Die Anti-2SLGBTQQIA+ -Politik verschärfte sich. Die kanadische Provinz Alberta hat im Januar Maßnahmen eingeführt, die den Zugang von Schüler*innen zu geschlechtsspezifischer Gesundheitsversorgung einschränken und die Diskussion über Geschlechtsidentität, sexuelle Vielfalt und umfassende Sexualerziehung in Schulen unterdrücken. [1]
Geschlechtsspezifische Gewalt
Indigene, Schwarze, rassifizierte Frauen und 2SLGBTQQIA+Menschen wurden überproportional häufig Opfer von Online-Drohungen, Gewalt und rassistischen Beschimpfungen. [2]
Eine Koalition von mehr als 100 Organisationen forderte die Regierung von Ontario und die Gemeindeverwaltungen auf, die Gewalt in Paarbeziehungen als Epidemie anzuerkennen – empfohlen in Gesetzentwurf 173 (Intimate Partner Violence Epidemic Act 2024).
Über Femizide an Schwarzen Frauen wird weiterhin zu wenig berichtet, da es an aufgeschlüsselten Daten fehlt.
Rechte Indigener Völker
Vier Landverteidiger*innen der Wet’suwet’en Nation und ihrer Verbündeten wurden der strafrechtlichen Missachtung einer richterlichen Anordnung für schuldig befunden, weil sie ihr Land mit friedlichen Mitteln gegen den Bau einer Gas-Pipeline schützten. Zu ihnen gehört ein Oberhaupt des Likhts’amisyu-Clans, Dsta’hyl, der einen 60-tägigen Hausarrest verbüßte. [3]
Die Asubpeeschoseewagong Netum Anishnabek (Grassy Narrows) First Nation berichtete vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR) von Gesundheitsproblemen und Umweltschäden durch Quecksilber, das vor 50 Jahren in das English-Wabigoon Fluss System eingeleitet worden war. Sie beklagten zudem das anhaltende Versäumnis Kanadas, weitere Vergiftungen zu verhindern und angemessene Wiedergutmachung zu leisten.
Die meisten der 94 Handlungsaufforderungen des Berichts der Wahrheits- und Versöhnungskommission Kanadas (Truth and Reconciliation Commission of Canada, TRC) aus dem Jahr 2015 wurden nach wie vor nicht umgesetzt.
Kanada hat es versäumt, echte Fortschritte bei der Umsetzung der 231 Forderungen nach Gerechtigkeit zu machen, die in der nationalen Untersuchung über vermisste und ermordete Indigene Frauen und Mädchen (National Inquiry into Missing and Murdered Indigenous Women and Girls) aufgestellt wurden.
Im August verloren Mütter der Mohawk (Kanien’kehá:ka Kahnistensera) ihren Fall vor dem Court of Appeal of Quebec. Sie forderten archäologische Ausgrabungen auf dem Gelände des ehemaligen Royal Victoria Hospitals in Montreal, weil sie dort Indigene Kindergräber vermuteten. Das Gericht hob die Entscheidung einer unteren Instanz auf. Diese hatte die McGill-Universität zur Umsetzung einer Vereinbarung über archäologische Ausgrabungen auf dem Gelände verpflichtet.
Der Abschlussbericht des Unabhängigen Sonderbeauftragten für vermisste Kinder sowie unbekannte Gräber und Begräbnisstätten erkennt an, dass die Indian Residential Schools “koloniale Einrichtungen des Völkermords“ waren und fordert von der Regierung die Durchführung einer unabhängigen Untersuchung unter Indigener Leitung.
Kanada hat mit Ecuador ohne Konsultation der Indigenen Völker ein Freihandelsabkommen ausgehandelt. Der Ständige Ausschuss für internationalen Handel hatte demgegenüber im Juni empfohlen, kein Handelsabkommen ohne die freie, vorherige und informierte Zustimmung der betroffenen Indigenen Völker abzuschließen. [4]
Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
Nach dem Programm für befristet arbeitende ausländische Arbeitskräfte (Temporary Foreign Worker Program, TFWP) waren Wanderarbeiter*innen weiterhin an eine*n einzige*n Arbeitgeber*in gebunden, die*der ihren Einwanderungsstatus, ihre Arbeitsbedingungen und ihre Lebensumstände kontrollierte. Dadurch waren sie der Gefahr von Arbeitsausbeutung und anderen Missständen wie Lohndumping, überlangen Arbeitszeiten, verbalem, körperlichem, sexuellem, psychologischem Missbrauch und Rassendiskriminierung ausgesetzt. Wanderarbeitnehmer*innen hatten im Rahmen des überwiegend rassistisch geprägten TFWP keinen Zugang zu angemessenen und wirksamen Rechtsmitteln.
Der Court of Appeal of Quebec bestätigte die Entscheidung, asylsuchenden Familien Zugang zu einer subventionierten Kinderbetreuung zu gewähren. Die Provinzregierung von Québec legte gegen die Entscheidung beim Supreme Court of Canada Berufung ein, die dieser im Oktober zuließ. Da der Court of Appeal den Antrag der Provinzregierung auf eine Aussetzung des Verfahrens ablehnte, haben die Familien bis zur Entscheidung des Supreme Court of Canada weiterhin Zugang zu einer subventionierten Kinderbetreuung.
Es bestehen weiterhin Bedenken hinsichtlich der komplexen Antragsverfahren und der Wirksamkeit des Programms befristeter Aufenthaltsvisa für Menschen aus dem Gazastreifen und dem Sudan.
Recht auf friedliche Versammlung
Im Juli untersagte der Ontario Superior Court of Justice das Recht auf friedliche Versammlung, indem er einer von der Universität Toronto beantragten einstweiligen Verfügung gegen ein friedliches pro-palästinensisches Lager stattgab. [5] Im ganzen Land wurden ähnliche Lager an Universitäten von der Polizei oder privaten Sicherheitskräften ohne Gerichtsbeschluss geräumt; mindestens ein Lager wurde nach einer Einigung mit der Universität beendet.
Unverantwortliche Waffentransfers
Kanada exportierte weiterhin Waffen und Militärausrüstung in Länder, die für frühere Verstöße nicht zur Rechenschaft gezogen wurden und bei denen ein erhebliches Risiko besteht, dass sie für schwere Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts eingesetzt werden.
Waffen im Wert von 6,4 Mio. USD wurden nach Saudi-Arabien exportiert. Das sind 42 Prozent der gesamten nicht-US-amerikanischen Militärausfuhren. Berichten zufolge wurden im Januar die Ausfuhrgenehmigungen für den Transfer von Militärgütern nach Israel ausgesetzt, obwohl es keine offizielle “Mitteilung an die Exporteur*innen” gab. Mindestens 180 Ausfuhrgenehmigungen blieben aktiv.
Recht auf eine gesunde Umwelt
Nach Regierungsangaben ist Kanada weltweit der elftgrößte Emittent von Treibhausgasen. Anstatt politische Maßnahmen zur Verringerung der Emissionen zu ergreifen, bot die Regierung den Unternehmen für fossile Brennstoffe eine Steuervergünstigung für Projekte zur Kohlenstoffabscheidung, Nutzung und Speicherung an. Nach Angaben der Kommissar*in für Umwelt und nachhaltige Entwicklung wird Kanada sein Ziel verfehlen, die Emissionen bis 2030 um 40-45 Prozent zu senken. Ein Rechtsrahmen zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen des Öl- und Gassektors wurde nicht eingeführt. Nach einer Pro-Kopf-Basis finanzierte Kanada die fossile Brennstoffindustrie wie kaum ein anderes G20 Land. Kanada erteilte weiterhin Genehmigungen für den Bau von Öl- und Gasinfrastrukturen, auch auf angestammten Indigenen Territorien.
Das Gesetz über den Umweltrassismus (Environmental Racism Bill) wurde in Kraft gesetzt. Es schreibt die Entwicklung einer nationalen Strategie zur Bekämpfung der durch Umweltrassismus verursachten Schäden vor.
Klimaaktivist*innen werden weiterhin kriminalisiert. In Montreal wurden drei Aktivist*innen festgenommen, weil sie friedlich gegen die Untätigkeit der Regierung im Kampf gegen den Klimawandel protestierten. [6]
[1] “Amnesty International Canada condemns ‘appalling’ anti-trans policy changes in Alberta”, 2 February
[2] “Canada must end technology-facilitated gender-based violence”, 5 July
[3.] “Wet’suwet’en Chief Dsta’hyl declared first Amnesty International prisoner of conscience held in Canada”, 31 July
[4] “Amnesty International Canada shares concerns at parliamentary study of free trade negotiations with Ecuador”, 16 February
[5] “U of T encampment ruling fails to uphold the right of peaceful assembly”, 2 July
[6] Authorities’ response to climate activists who climbed the Jacques-Cartier bridge raises concerns”, 30 October (French only)