Kenia
Berichtszeitraum | 1.1.2024 – 31.12.2024 |
Englischer Originaltext | Kenya |
Weitere Online-Dokumente von Amnesty International Deutschland | Kenia |
Republik Kenia
Sechzig Menschen wurden getötet und Hunderte verletzt, als die Polizei mit übermäßiger und unnötiger Gewalt gegen Menschen vorging, die gegen ein vorgeschlagenes Finanzgesetz protestierten. Gesetzentwürfe drohten, das Recht auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung weiter einzuschränken. Mehr als 600 Demonstrierende wurden willkürlich festgenommen und inhaftiert, und Dutzende ließ man verschwinden. Es wurde weiterhin von außergerichtlichen Hinrichtungen berichtet. Nach heftigen Regenfällen und Überschwemmungen hat die Regierung Tausende von Menschen aus den Siedlungen Mathare und Mukuru Kwa Njenga zwangsgeräumt. Mindestens 97 Frauen wurden zwischen August und Oktober getötet, die meisten durch geschlechtsspezifische Gewalt, wie aus offiziellen Statistiken hervorgeht. Probleme bei der Umsetzung des neuen Sozialen Gesundheitsfonds beeinträchtigten den Zugang einiger Menschen zur Gesundheitsversorgung. Das Projekt der Regierung zur digitalen Identifizierung drohte das Recht auf Privatsphäre zu untergraben.
Hintergrund
Tausende von Demonstrierenden protestierten gegen das Finanzgesetz von 2024, Korruption und schlechte Regierungsführung. Sie argumentierten, dass das Gesetz unerschwingliche Steuererhöhungen, u. a. auf Brot und andere Grundnahrungsmittel, vorsehen würde, ohne ausreichende soziale Schutzmaßnahmen. Das Gesetz würde auch die Schuldenkrise verschärfen. Junge Menschen, die so genannten Gen-Zs, führten Proteste in den sozialen Medien an, um politische und soziale Gerechtigkeit zu fordern. Am 25. Juni erklärte Präsident William Ruto, die Proteste seien „von Leuten infiltriert worden, die finanziert werden, um Chaos und Unruhen zu stiften“. Er unterstützte eine Entscheidung des Kabinetts, die Armee zur „Unterstützung“ der Polizei bei den Protesten einzusetzen, obwohl die Verfassungsbestimmungen dies nur in Not- und Katastrophenfällen oder zur Wiederherstellung des Friedens in von Unruhen oder Instabilität betroffenen Gebieten nach Zustimmung des Parlaments zulassen. Am 26. Juni, dem Tag nach der Verabschiedung des Finanzgesetzes durch das Parlament, verweigerte der Präsident dem Gesetz seine Zustimmung .
Am 8. Oktober stimmte die Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit dafür, den damaligen stellvertretenden Präsidenten, Rigathi Gachagua, wegen angeblichen groben Fehlverhaltens, Stammesdenken und Korruption anzuklagen. Am 18. Oktober erhob der Senat Anklage gegen ihn in fünf von elf Anklagepunkten, darunter Anstiftung zu ethnischen Spaltungen.
Übermäßige und unnötige Anwendung von Gewalt
Nach Angaben der Kenya National Commission on Human Rights (KNCHR) starben zwischen Juni und Juli 60 Menschen und Hunderte weitere wurden verletzt, als die Polizei bei Protesten gegen das Finanzgesetz übermäßige und unnötige Gewalt anwandte. Das jüngste Opfer war der 12-jährige Kennedy Onyango, der am 27. Juni im Bezirk Kajiado an seinen Schussverletzungen starb. Die unabhängige Polizeiaufsichtsbehörde (Independent Policing Oversight Authority, IPOA) hat zu einigen Vorfällen Ermittlungen eingeleitet, doch wurden keine Informationen über die Fortschritte der IPOA-Untersuchungen veröffentlicht.
Tausende von Demonstrierenden versammelten sich am 25. Juni landesweit, als das Gesetz kurz vor der Verabschiedung im Parlament stand. In der Hauptstadt Nairobi drangen Hunderte von friedlichen Demonstrierenden in die Bereiche in und um das Parlament ein. Die Polizei, von denen viele Sturmhauben und Masken trugen, trieb sie mit scharfen Kugeln und Tränengas auseinander – was nach verschiedenen Gerichtsurteilen verboten ist – und schlug sie mit Schlagstöcken. Mindestens sechs Demonstrierende wurden getötet, offenbar durch Schüsse. Hunderte erlitten nach Angaben des KNCHR Schussverletzungen sowie Weichteilverletzungen durch Schlagstöcke und Tränengasgranaten. Mindestens ein Demonstrant verlor drei Finger, als ihn eine Tränengasgranate traf.
Gegen 21 Uhr desselben Tages wies der Verteidigungsminister das Militär an, „kritische Infrastruktur“ zu schützen, woraufhin das Militär zur Unterstützung der nationalen Polizei bei der Kontrolle der Proteste eingesetzt wurde. Am 27. Juni genehmigte der Oberste Gerichtshof Kenias den Einsatz, wies die Regierung jedoch an, einen Zeitplan für die Dauer des Einsatzes festzulegen und ihn zu veröffentlichen, was sie jedoch nicht tat.
Die Anwaltskammer (Law Society of Kenya) bezeichnete den Einsatz als Einschüchterungstaktik. Am 28. Juni erließ der Oberste Gerichtshof in Malindi eine einstweilige Verfügung, die es den Sicherheitskräften untersagte, tödliche und weniger tödliche Munition (einschließlich Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse) gegen friedliche Demonstrierende einzusetzen.
Freiheit der Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit
Die Regierung unterstützte Gesetzesentwürfe zur Bekämpfung abweichender Meinungen, die im Falle ihrer Verabschiedung das Recht auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung bedrohen würden. Dazu gehört das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz von 2024, das vom Abgeordneten des Wahlkreises Mbeere North eingebracht wurde. Im Falle seiner Verabschiedung würden die polizeilichen Befugnisse zur Einschränkung, Auflösung und Begrenzung von Protesten ausgeweitet. Die im Gesetz über die öffentliche Ordnung (Public Order Act) vorgesehenen Meldebestimmungen würden dahingehend geändert, dass für die Durchführung einer Demonstration eine polizeiliche Genehmigung erforderlich ist. Der Gesetzentwurf sieht eine einjährige Haftstrafe für Organisator*innen von „ungesetzlichen“ Protesten vor, ohne zu definieren, was eine ungesetzliche Versammlung ist.
Während der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste gegen das Haushaltsgesetz (siehe oben) dokumentierten Menschenrechtsbeobachter*innen die unrechtmäßige Auflösung friedlicher Versammlungen durch die Polizei sowie willkürliche Verhaftungen und Misshandlungen von Demonstrierenden. Journalist*innen, die über die Proteste berichteten, wurden verprügelt, verhaftet und ihre Kameras beschlagnahmt, und Menschen wurden verhaftet oder auf andere Weise daran gehindert, die Ereignisse zu fotografieren oder zu filmen.
Nach Recherchen der Nation Media Group, einem Medienunternehmen, führten die Behörden eine umfassende digitale Überwachung durch, die verschiedene Online-Aktivist*innen ins Visier nahm und den Zugang zum Internet unterbrach.
Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen
Zwischen Juni und August wurden nach Angaben des KNCHR mehr als 600 Demonstrierende wegen ihrer Teilnahme an friedlichen Protesten festgenommen. Einige wurden über die gesetzliche Höchstdauer von 24 Stunden hinaus festgehalten, andere wurden aufgrund erfundener Anschuldigungen vor Gericht gestellt. Die Sicherheitskräfte nahmen medizinisches Personal fest, das sich um verletzte Demonstrierende kümmerte. Den Anwält*innen der Inhaftierten wurde häufig der Zugang zu ihren Mandant*innen verweigert, und einige wurden verhaftet oder eingeschüchtert, um sie unter Druck zu setzen, damit sie ihre Fälle fallen lassen.
Verschwindenlassen von Personen
Nach Angaben der Law Society of Kenya „verschwanden“ mindestens 72 Personen, darunter Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen, im Zusammenhang mit ihrer Beteiligung an den Protesten gegen das Finanzgesetz. Über den Verbleib und das Schicksal einiger von ihnen war Ende des Jahres noch nichts bekannt. Am 30. August leugnete Präsident Ruto öffentlich jede Kenntnis vom Verschwindenlassen.
Außergerichtliche Hinrichtungen
Im Laufe des Jahres wurden mindestens 104 Fälle von außergerichtlichen Hinrichtungen registriert. Die Missing Voices Coalition („Koalition der fehlenden Stimmen“) – eine nationale Koalition von Menschenrechtsorganisationen – und andere Gruppen forderten die Regierung auf, Maßnahmen zur Beendigung solcher Tötungen zu ergreifen.
Denzel Omondi, ein Student der Jomo Kenyatta University of Agriculture and Technology, wurde am 6. Juli tot in einem Sumpf in Juja, Bezirk Kiambu, aufgefunden, nachdem er an Protesten gegen das Finanzgesetz teilgenommen hatte. Eine IPOA-Untersuchung zu den Umständen seines Todes war Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen.
Der Prozess gegen den ehemaligen Polizeibeamten Ahmed Rashid, dem mindestens zwei außergerichtliche Hinrichtungen vorgeworfen werden, wurde vor den Gerichten von Kibera fortgesetzt. Unter den von der Staatsanwaltschaft präsentierten Zeugen waren auch unmittelbare Familienangehörige der mutmaßlichen Opfer von Ahmed Rashid.
Zwangsräumungen
Zwischen März und April hat die Regierung in den Siedlungen Mathare und Mukuru Kwa Njenga in Nairobi mindestens 6.000 Haushalte zwangsgeräumt und ihre Häuser abgerissen. Die Zwangsräumungen erfolgten inmitten starker Regenfälle und Überschwemmungen. Die Regierung behauptete, die Bewohner*innen hätten ihre Häuser auf Ufergrundstücken gebaut, die daher überschwemmungsgefährdet seien. Die Zustimmung der Bewohner*innen vor der Räumung wurde jedoch nicht eingeholt, und die Behörden haben sie auch nicht über eine angemessene Kündigungsfrist informiert oder einen klaren und angemessenen Umsiedlungsplan vorgelegt. Die Bewohner*innen wurden obdachlos, brauchten dringend Lebensmittel und andere lebenswichtige Güter und liefen Gefahr, sich mit Krankheiten anzustecken. Im November ordnete das Oberste Gericht in Nairobi an, dass Vertreter*innen der Regierung und der Anwohner*innen bis April 2025 gemeinsam die Höhe der entstandenen Verluste ermitteln sollten, woraufhin die Regierung die vertriebenen Anwohner*innen entschädigen sollte.
Geschlechtsspezifische Gewalt
Nach Angaben der Direktion für kriminalpolizeiliche Ermittlungen wurden zwischen August und Oktober mindestens 97 Frauen getötet, die meisten davon durch geschlechtsspezifische Gewalt. Die Regierung versäumte, Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Mädchen vor der weit verbreiteten geschlechtsspezifischen Gewalt einzuführen, die von Intimpartnern, Familienmitgliedern und anderen Personen, insbesondere Männern, die den Opfern bekannt sind, ausgeübt wird. Die Morde an Rita Waeni und Starlet Wahu lösten landesweite Demonstrationen aus, bei denen Hunderte von Frauen die Regierung aufforderten, die Schutzmaßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu verstärken, die Ermittlungen zu beschleunigen und die mutmaßlichen Täter zu verfolgen.
Recht auf Gesundheit
Am 1. Oktober ersetzte die Regierung den National Health Insurance Fund (NHIF) durch den Social Health Insurance Fund (SHIF). Das neue System verpflichtete die Kenianer*innen zu einem Beitrag von 2,75 % ihres monatlichen Bruttoeinkommens, was für die meisten Erwerbstätigen zu einem höheren Beitrag führte. Von die*denjenigen, die nicht erwerbstätig sind, wurde ebenfalls ein Beitrag von 300 KES (etwa 2,32 USD) pro Monat für den Zugang zur Gesundheitsversorgung erwartet. Obwohl das System angeblich alle Kenianer*innen versorgen sollte, führten Verzögerungen bei der Umsetzung des Systems dazu, dass die meisten Krankenhäuser keine ausreichenden Einnahmen von der Regierung erhielten, um Patient*innen im Rahmen des SHIF-Systems zu behandeln. Dies bedeutete, dass einige Patient*innen, insbesondere solche mit langfristigen Erkrankungen, mehr Schwierigkeiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung hatten.
Recht auf Privatsphäre
Zivilgesellschaftliche Gruppen äußerten ihre Besorgnis und Unzufriedenheit über das Projekt der Regierung zur digitalen Identifizierung, das die persönlichen Daten der Menschen über alle digitalen Plattformen hinweg integrieren soll, um den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu erleichtern. Die Gruppen behaupteten, der Versuch der Regierung, die Öffentlichkeit zu dem Projekt zu konsultieren, sei nicht sinnvoll gewesen, da die meisten Kenianer*innen nicht verstanden hätten, welche Auswirkungen dies auf die Sicherheit ihrer Daten haben würde.