Kirgisistan

Kirgisistan

Berichtszeitraum 1.1.2024 – 31.12.2024
Englischer Originaltext Kyrgyzstan
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Die Kirgisische Republik

Die Behörden verschärften ihr Vorgehen gegen friedliche Äußerung abweichender Meinungen. Aktivist:innen und unabhängige Journalist:innen wurden festgenommen und unter fadenscheinigen Anschuldigungen strafrechtlich verfolgt. Neue Gesetze über „ausländische Vertreter“ schränkten die Rechte der Zivilgesellschaft auf Vereinigungsfreiheit und freie Meinungsäußerung stark ein. Zweiundzwanzig Angeklagte wurden von politisch motivierten Anschuldigungen freigesprochen. Geschlechtsspezifische Gewalt, einschließlich häuslicher Gewalt, war nach wie vor weit verbreitet und ließ eine hohe Dunkelziffer vermuten. Drei von vier Haushalten konnten sich keine ausreichende Ernährung leisten. Die Behörden haben die Öffentlichkeit zu politischen Maßnahmen und Entscheidungen mit Auswirkungen auf die Umwelt nicht konsultiert.

Freiheit der Meinungsäußerung

Die Behörden schränkten die Medienfreiheit und friedliche Äußerung abweichender Meinungen durch politisch motivierte Strafverfolgungen und Gesetzesvorschläge ein, die dazu dienen könnten, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Kylym Shamy haben Staatsanwälte zwischen Januar und Oktober mindestens 71 Strafverfahren gegen Journalist:innen, Aktivist:innen, Blogger:innen und Kommentator:innen in den sozialen Medien angestrengt. Die Anklagen reichten von der Aufstachelung zu ethnischem oder religiösem Hass bis hin zum Aufruf zu Massenunruhen und zum Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung. Sie zielten darauf ab, kritische Berichterstattung über politisch sensible Themen, Korruptionsvorwürfe und Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen.

Im Januar verhaftete die Polizei 11 gegenwärtige und ehemalige Medienmitarbeiter:innen, die mit den investigativen Journalismusprojekten Ayt Ayt Dese und Temirov Live in Verbindung stehen, unter der unbegründeten Anschuldigung, sie hätten „zu Massenunruhen aufgerufen“. Am 10. Oktober verurteilte ein Gericht nach einem hinter verschlossenen Türen geführten Prozess Makhabat Tazhibek-kyzy, den Leiter von Temirov Live, und Azamat Ishenbekov zu sechs bzw. fünf Jahren Haft. Zwei Angeklagte wurden zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt, sieben wurden freigesprochen. [1] Am 18. Dezember bestätigte ein Berufungsgericht die Urteile. Gegen diese Entscheidung wurde Ende Dezember Berufung beim Obersten Gerichtshof eingelegt.

Im Juli verhaftete die Polizei Zhoomart Karabaev, einen Mitarbeiter der Nationalen Akademie der Wissenschaften (NAS), nachdem er behauptet hatte, das staatliche Komitee für nationale Sicherheit habe NAS-Mitglieder unter Druck gesetzt, ihre Berichte zu fälschen, um die Verfolgung von Regierungskritiker*innen zu unterstützen. Zhoomart Karabaev wurde wegen seiner Beiträge in den sozialen Medien und seiner öffentlichen Äußerungen wegen Anstiftung zu Massenunruhen angeklagt. Sein Prozess begann im Oktober und dauerte Ende Dezember noch an.

Im Juli bestätigte der Oberste Gerichtshof eine Anordnung zur Schließung des investigativen Medienunternehmens Kloop Media Public Foundation. Die Entscheidung geht auf eine Klage der Staatsanwaltschaft der Stadt Bischkek zurück, in der unter anderem behauptet wurde, dass Kloop es versäumt habe, sich als Massenmedium registrieren zu lassen, Medienaktivitäten ausgeübt habe, die nicht in seiner Satzung aufgeführt seien, und Leser zur Teilnahme an regierungsfeindlichen Protesten ermutigt habe. [2]

Im August legte die Regierung einen Gesetzesentwurf vor, der Verleumdung und Beleidigung im Internet oder in den Massenmedien zu Ordnungswidrigkeiten macht. Die Venedig-Kommission des Europarats hatte den Gesetzesentwurf zuvor geprüft und war zu dem Schluss gekommen, dass er erheblich geändert werden müsse, um internationalen Menschenrechtsstandards zu entsprechen. Dennoch billigte das Parlament im Dezember das Gesetz.

Im September legte die Regierung einen weiteren Gesetzesentwurf zur öffentlichen Konsultation vor, mit dem der Besitz von vage definiertem „extremistischem“ Material wieder unter Strafe gestellt werden soll. Der Entwurf schlug auch einen neuen Straftatbestand für die Nutzung des Internets oder der Massenmedien zu öffentlichen Aufrufen zu „extremistischen“ Aktivitäten oder zur „gewaltsamen Machtergreifung“ vor. Dies ließ Befürchtungen aufkommen, dass dieser Straftatbestand genutzt werden könnte, um gegen kritische Stimmen vorzugehen.

Vereinigungsfreiheit

Im April unterzeichnete Präsident Sadyr Japarov ein restriktives Gesetz, wonach sich alle NGO, die ausländische Mittel erhalten und eine vage definierte „politische Tätigkeit“ ausüben, als „ausländische Vertreter“ registrieren lassen müssen. Nach diesem Gesetz können die Behörden die Tätigkeit einer NGO ohne Gerichtsbeschluss aussetzen oder die Organisation aus dem Register streichen, wenn sie sich nicht als „ausländischer Vertreter“ registrieren lässt. Im Oktober kam die Venedig-Kommission zu dem Schluss, dass das Gesetz der kirgisischen Verfassung und internationalen Verträgen widerspreche und dass seine Umsetzung ein „reales Risiko der Stigmatisierung, des Mundtot-Machens und schließlich der Eliminierung“ von NGO berge, die ausländische Mittel erhielten.

Bis Ende Dezember hatten sich nur wenige Organisationen als ausländische Vertreter registrieren lassen, aber viele hatten entweder ihre Aktivitäten reduziert oder ihre Tätigkeit als NGO eingestellt.

Unfaire Verfahren

Am 14. Juni sprach ein Gericht alle 22 Angeklagten im so genannten Kempir-Abad-Fall von den politisch motivierten Vorwürfen der Planung von Massenunruhen und in einigen Fällen des Versuchs der gewaltsamen Machtergreifung frei. In einem von Ungereimtheiten und Verfahrensverstößen geprägten Fall waren die Angeklagten lediglich deshalb inhaftiert worden, weil sie friedlich ihre Menschenrechte wahrgenommen und unter anderem ihre Bedenken gegen die Abtretung der Kontrolle über das Süßwasserreservoir Kempir Abad (Andijan) im Jahr 2022 geäußert hatten. Die Staatsanwaltschaft, die für alle 22 Angeklagten eine Haftstrafe von 20 Jahren gefordert hatte, legte Berufung ein – das Verfahren war Ende Dezember noch nicht abgeschlossen. [3]

Rechte von LGBTI+

Die Arbeit von LGBTI-NGOs wurde durch ein Gesetz aus dem Jahr 2023, das „LGBTI-Propaganda“ verbietet, negativ beeinflusst. Viele NGOs mussten ihre Aktivitäten zur Sensibilisierung und Aufklärung der Öffentlichkeit einschränken und ihre Unterstützung für Menschen, die von Menschenrechtsverletzungen bedroht sind, einschränken.

Im Januar führte das neue Gesetz zum Schutz der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger diskriminierende Einschränkungen des Rechts auf Gesundheit und körperliche Autonomie von Transgender-Personen ein, indem es das Alter, ab dem eine geschlechtsangleichende Behandlung in Anspruch genommen werden kann, auf 25 Jahre anhob. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) forderte die Regierung auf, das neue Gesetz zu überarbeiten, um einen diskriminierungsfreien Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsdiensten und geschlechtsangleichender medizinischer Versorgung für Transgender-Personen zu gewährleisten. Er äußerte sich auch besorgt über die Verzögerungen bei der Verabschiedung umfassender Antidiskriminierungsgesetze und empfahl die Aufhebung aller Gesetze, die LGBTI-Personen diskriminieren, insbesondere des Gesetzes über die Propaganda „nichttraditioneller sexueller Beziehungen“.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen und Mädchen sind nach wie vor weit verbreitet und werden zu wenig gemeldet; häufig bleiben die Täter straffrei. Die Polizei registrierte zwischen Januar und Oktober 14.293 Fälle von häuslicher Gewalt, was einem Anstieg von 37 % gegenüber 2023 entspricht.

Im August unterzeichnete der Präsident ein Gesetz, mit dem die Möglichkeit der Versöhnung in Fällen von Vergewaltigung und sexueller Nötigung abgeschafft wurde. Häusliche Gewalt, einschließlich Vergewaltigung in der Ehe, bleibt jedoch eine Ordnungswidrigkeit, die nur mit Geldstrafen oder einer Verwaltungshaft von bis zu sieben Tagen geahndet wird.

Im Oktober stellte die UN-Sonderberichterstatterin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen fest, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen, die Opfer von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt wurden, auf spezifische und fast unüberwindbare Hindernisse stoßen, wenn sie Hilfe und Schutz suchen.

Recht auf Nahrung

Im Oktober brachte der CESCR seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass fast die Hälfte der Bevölkerung, insbesondere die in Armut lebenden Menschen, ihren täglichen Nahrungsbedarf nicht decken können und dass drei von vier Haushalten sich keine ausreichende Ernährung leisten können. Etwa einer von drei Menschen in Kirgisistan lebte in Armut. Kinder, Menschen mit Behinderungen, Wanderarbeiter*innen, Familien und ländliche Gemeinschaften waren unverhältnismäßig stark betroffen.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Kirgisistan hat es versäumt, einen Rechtsrahmen mit rechtlichen Verpflichtungen zur Einhaltung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht zu verabschieden, obwohl der CESCR „die schädlichen Auswirkungen von Bergbautätigkeiten und Entwicklungsprojekten auf die Umwelt und die Lebensgrundlagen lokaler Gemeinschaften“ festgestellt hat.

Im Juni hob der Präsident ein Gesetz aus dem Jahr 2019 auf, das die Erschließung seltener Mineralvorkommen ohne wirksame Konsultation der betroffenen Gemeinden untersagte.

Im September begann die Regierung mit dem Abbau von Thorium in der Region Kyzyl-Ompol, ohne zuvor eine sorgfältige Prüfung der Menschenrechte und eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen.

[1] “Kyrgyzstan: Drop baseless charges against Temirov LIVE and Ayt Ayt Dese journalists”, 2 October

[2] “Kyrgyzstan: Overturn decision to liquidate Kloop Media”, 6 September

[3] “Kyrgyzstan: Acquittal in ‘Kempir-Abad case’ is a victory for justice and human rights”, 14 June

 

29. Juni 2025