Königreich Marokko
Berichtszeitraum | 1.1.2024 – 31.12.2024 |
Englischer Originaltext | Morocco and Western Sahara |
Die Behörden unterdrückten weiterhin abweichende Meinungen und verfolgten und überwachten Journalist*innen, Aktivist*innen und Regierungskritiker*innen, obwohl der König Tausende von Gefangenen, darunter auch Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen, begnadigt hatte. Marokkos Gesetze und Praktiken hielten weiterhin die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern aufrecht und kriminalisierten einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen. Die Behörden kamen ihrer Verpflichtung nicht nach, für Frauen und Mädchen zugängliche, erschwingliche und qualitativ hochwertige Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, einschließlich Abtreibung, zu gewährleisten. Die Zivilgesellschaft wehrte sich gegen einen Entwurf der Strafprozessordnung, der die Korruptionsbekämpfung behindern würde. Die Behörden haben es versäumt, das tödliche Vorgehen gegen Migrant*innen und Flüchtlinge im Juni 2022 wirksam zu untersuchen. Die Behörden nahmen willkürlich Flüchtlinge, Asylbewerber*innen und Migrant*innen fest und brachte sie zwangsweise in abgelegene Regionen, wodurch ihre Sicherheit und ihr Leben gefährdet wurden. Marokko hatte mit einer schweren, durch den Klimawandel verursachten Dürre zu kämpfen, und die Reaktion der Behörden auf das Erdbeben im September 2023 wurde als unzureichend kritisiert.
Hintergrund
Die Behörden haben es versäumt, den UN-Sonderberichterstatter für Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte einzuladen. Er hatte für den 24. April einen Besuch in Marokko beantragt, weil er befürchtete, dass im Namen der “Terrorismusbekämpfung” weiterhin Menschenrechtsverletzungen begangen werden.
Am 4. Oktober entschied der Europäische Gerichtshof, dass die Handelsabkommen zwischen der EU und Marokko über Fischerei und landwirtschaftliche Erzeugnisse aus dem Jahr 2019, denen die Bevölkerung der Westsahara nicht zugestimmt hat, gegen den Grundsatz der Selbstbestimmung verstoßen.
Freiheit der Meinungsäußerung
Im Juli wurden rund 2 460 Gefangene, darunter mehrere hochrangige Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen, durch königliche Begnadigung freigelassen. Dazu gehörten die Journalisten Omar Radi, Taoufik Bouachrine und Suleiman Raissouni sowie der YouTuber Mohamed Réda Taoujni. Nach seiner Freilassung wurde Suleiman Raissouni zur Zielscheibe von Verleumdungskampagnen.
Journalist*innen, Aktivist*innen und Regierungskritiker*innen wurden strafrechtlich verfolgt, digital überwacht und von staatsnahen Medien verleumdet. Mehrere wurden inhaftiert, weil sie die Monarchie kritisierten oder das veröffentlichten, was die Behörden als “falsche Nachrichten” bezeichneten.
Im Februar und September forderte der UN-Menschenrechtsausschuss die Behörden auf, vorläufige Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit des 81-jährigen Menschenrechtsanwalts und ehemaligen Ministers für Menschenrechte, Mohamed Ziane, zu ergreifen, der im November 2022 wegen fingierter Anschuldigungen im Zusammenhang mit seiner Menschenrechtsarbeit verurteilt worden war. Nach Angaben der Organisation Alkarama, die die Beschwerde eingereicht hat, sind die Behörden dieser Aufforderung nicht nachgekommen.
Im November verurteilte das Erstinstanzliche Gericht in Rabat den Journalisten Hamid El Mahdaoui, Betreiber der Website Badil, zu 18 Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe. Es befand ihn aufgrund einer Klage des Justizministers Abdellatif Ouahbi wegen “Verbreitung falscher Behauptungen” und “Verleumdung” für schuldig.
Unterdrückung abweichender Meinungen
Die Behörden schränkten die Rechte auf Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung in der Westsahara weiter ein.
Im Januar löste die Polizei eine friedliche Demonstration von saharauischen Frauenaktivistinnen in Laayoune gewaltsam auf und schlug die Demonstrierenden.
Im Februar verhinderte die Polizei, dass eine Pressekonferenz des Kollektivs der saharauischen Menschenrechtsverteidiger (CODESA) zur Menschenrechtslage in der Westsahara im Haus des Vorsitzenden der Organisation, Ali Salem Tamek, in Laayoune stattfand.
Im April haben die marokkanische Armee und die Gendarmerie die Häuser von 12 saharauischen Familien in der Stadt Al-Jitir, nördlich von Smara, mit Bulldozern zerstört. Die marokkanischen Behörden erklärten, sie würden gegen unkontrollierte Bauvorhaben vorgehen. Die Häuser wurden ohne angemessene Vorankündigung oder die Bereitstellung von Alternativunterkünften zerstört, was einer Zwangsräumung gleichkam.
Im August unterzog die Polizei 13 Aktivist*innen auf den Flughäfen von Laayoune und Dakhla willkürlichen Durchsuchungen und beschlagnahmte Dokumente und andere persönliche Gegenstände. Die Aktivist*innen waren auf dem Rückweg von einer Konferenz in der Türkei.
Rechte von Frauen und Mädchen
Die innerstaatliche Gesetzgebung verfestigt weiterhin die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, unter anderem in Bezug auf das Erbrecht und das Sorgerecht für Kinder.
Am 28. Juni legte König Mohammed VI. dem Hohen Rat der Ulemas einen überarbeiteten Entwurf des Familiengesetzes zur religiösen Beurteilung vor, bevor er im Parlament zur Abstimmung gestellt wurde. Die Behörden gaben den Entwurf nicht öffentlich bekannt und stellten nur begrenzte Informationen über Konsultationen mit Menschenrechtsorganisationen und Aktivist*innen zur Verfügung.
Die Behörden kamen ihrer Verpflichtung nicht nach, zugängliche, erschwingliche und qualitativ hochwertige Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, einschließlich des Schwangerschaftsabbruchs, zu gewährleisten. Sie zwangen so Frauen und Mädchen in gefährliche Situationen und verletzten damit ihre Menschenrechte. [1] Die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die selbst in Fällen von Vergewaltigung mit einer Freiheitsstrafe geahndet wurde, hatte weiterhin verheerende Folgen für Frauen und Mädchen.
Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans– und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+)
Artikel 489 des Strafgesetzbuchs stellte einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen weiterhin unter Strafe. Sie konnten mit bis zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe geahndet werden.
Nach Angaben der LGBTI-Rechtsorganisation Akaliyat waren LGBTI-Personen weiterhin willkürlichen Verhaftungen, Strafverfolgungen, Misshandlungen in der Haft, Hassverbrechen und anderen Diskriminierungen ausgesetzt, und die meisten fühlten sich nicht sicher genug, um Verstöße anzuzeigen.
Laut marokkanischen Medien haben die örtlichen Behörden im Juni und September zwei gleichgeschlechtliche Hochzeiten verhindert.
Am 9. September forderte der Parlamentsabgeordnete Mustafa Ibrahimi die Regierung auf, ein Lehrbuch für die frühkindliche Bildung zu verbieten, weil es einen Regenbogen auf dem Einband zeigte. Seinem Antrag wurde bis Ende des Jahres nicht entsprochen.
Straffreiheit
Am 29. August billigte die Regierung den Gesetzentwurf 03-23 zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes 22-01 über die Strafprozessordnung. Die endgültige Verabschiedung des Textes durch das Parlament stand Ende des Jahres an. Die Reform wurde von der marokkanischen Anwaltskammer als Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf ein faires Verfahren abgelehnt, ebenso von Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter Transparency Morocco und der Marokkanischen Vereinigung zum Schutz öffentlicher Gelder, da sie die Zivilgesellschaft daran hindern würde, Beamte wegen Korruption anzuzeigen.
Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung
Im September kündigte Marokkos Nationale Menschenrechtsinstitution, der Nationale Menschenrechtsrat, an, genetische Tests durchzuführen, um die Identität der menschlichen Überreste im ehemaligen Geheimgefängnis Tazmamart zu bestätigen, in dem die Behörden zwischen 1973 und 1991 Häftlinge gefoltert und misshandelt haben. Nach Ansicht der Familien der Opfer von Tazmamart kam diese bemerkenswerte Entscheidung zwei Jahrzehnte zu spät und ihre anderen Forderungen wie die nach Wiedergutmachung blieben unerfüllt. Die Vereinigung forderte eine gründliche und unparteiische Untersuchung der Umstände und Ursachen für den Tod der Gefangenen in Tazmamart.
Nach Angaben des Nationalen Menschenrechtsrates haben seit 1999 27.723 Personen eine finanzielle Entschädigung für die zwischen 1973 und 1991 begangenen Menschenrechtsverletzungen erhalten, darunter auch ehemalige Opfer des Verschwindenlassens oder deren Anspruchsberechtigte. Insgesamt wurden 211,8 Mio. USD verteilt.
Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
Die Behörden haben es versäumt, für eine transparente und wirksame Untersuchung des Todes von mindestens 37 Menschen und des Verschwindens von 77 weiteren Personen zu sorgen. Marokkanische und spanische Sicherheitskräfte hatten Aufruhrbekämpfungs-Ausrüstung und weniger tödliche Waffen eingesetzt, um eine Gruppe von bis zu 2.000 afrikanischen Migrant*innen, Asylbewerber*innen und Flüchtlingen aus Subsahara-Afrika gewaltsam auseinanderzutreiben, als diese am 24. Juni 2022 versuchten, die Grenze von Marokko zur spanischen Enklave Melilla zu überqueren. [2]
Am 24. Juni meldete die spanische Presseagentur EFE unter Berufung auf Quellen aus der marokkanischen Staatsanwaltschaft, dass die marokkanischen Behörden eine Anfang des Jahres eingeleitete Untersuchung über den Tod von 23 Menschen in Melilla im Juni 2022 eingestellt hätten. Es lägen “keine Beweise für ein Verbrechen” vor und die Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte sei verhältnismäßig gewesen. Die marokkanischen Behörden haben die Ergebnisse ihrer Untersuchung nicht veröffentlicht. Die marokkanische Vereinigung für Menschenrechte (AMDH) berichtete, dass die Behörden zwischen dem 6. und 12. Juni 2024 mindestens 13 der bei dem Einsatz getöteten Personen heimlich beerdigt haben.
Laut einer im Mai von Lighthouse Reports und einem Konsortium von Medien veröffentlichten Untersuchung verhafteten die marokkanischen Behörden schwarze Flüchtlinge und Migrant*innen in Stadtgebieten aus rassistischen Motiven, bevor sie sie in abgelegenen Gebieten nahe der algerischen Grenze aussetzten, wodurch ihre Sicherheit und ihr Leben gefährdet wurden.
Im Januar und Februar wurden nach Angaben der CODESA zwei mauretanische und vier malische Staatsangehörige bei Drohnenangriffen der marokkanischen Behörden in der Westsahara getötet. Die Behörden rechtfertigten die Angriffe als Teil der Bemühungen der Regierung zur Bekämpfung von Schmuggel und nicht genehmigten Aktivitäten wie Goldabbau oder -handel. Bis zum Jahresende waren keine unabhängigen oder wirksamen Untersuchungen zu den Todesfällen durchgeführt worden.
Wirtschaftliche und soziale Rechte
Im April kündigte die Regierung an, sie werde in den nächsten zwei Jahren den Mindestlohn für Beschäftigte im öffentlichen Dienst, in der Privatwirtschaft und in der Landwirtschaft anheben und die Einkommensteuer senken.
Eine im Juni veröffentlichte Studie des Hohen Planungskommissars, einer staatlichen Statistikbehörde, ergab, dass der Lebensstandard zwischen 2019 und 2022 um 3,1 % sank, was im Zusammenhang mit Corona und der mehrjährigen Dürre zu einem Anstieg der absoluten Armut führte. Die ärmsten 10 % der Bevölkerung gaben 50 % ihres Einkommens für Lebensmittel aus.
Im Juli verwies das Parlament den Entwurf des grundlegenden Gesetzes 97-15 über das Streikrecht an den marokkanischen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat (CESE) zur Abgabe eines Gutachtens. Der CESE erklärte, dass der Entwurf erheblich überarbeitet werden müsse, um die internationalen Verpflichtungen Marokkos im Bereich der Arbeitnehmerrechte zu erfüllen.
Die FIFA gab bekannt, dass die Fußballweltmeisterschaft der Männer 2030 von Spanien, Portugal und Marokko gemeinsam ausgerichtet wird. Marokko sieht sich mit mehreren Risiken konfrontiert, die sich aus der Ausrichtung des Turniers ergeben und die noch geklärt werden müssen, insbesondere in Bezug auf Arbeitsrechte, Rechte von Migranten, Kinderarbeit und Zwangsräumungen. [3]
Recht auf eine gesunde Umwelt
Marokko leidet weiterhin unter einer lang anhaltenden und schweren, durch den Klimawandel verursachten Dürre. Im Januar meldeten die Behörden, dass die Stauseen einen kritischen Tiefstand erreicht hatten und die Niederschlagsmenge 70 % unter dem Durchschnitt lag. Die Dürre beeinträchtigte die Bewässerung der landwirtschaftlichen Flächen, mit negativen Folgen für das Recht auf Nahrung und einen angemessenen Lebensstandard. Die Landwirtschaft blieb der größte Wirtschaftszweig und der wichtigste Arbeitgeber in den ländlichen Gebieten. Im August und September kam es in mehreren Regionen im Südosten und Norden des Landes zu heftigen Regenfällen und Gewittern. Sie führten zu Überschwemmungen, bei denen mindestens 30 Menschen ums Leben kamen.
Im Mai teilte die AMDH eine vorläufige Bewertung der Reaktion der Regierung auf das verheerende Erdbeben mit, das die Region Al Haouz am 8. September 2023 erschütterte und rund 3.000 Todesopfer forderte. Die AMDH stellte fest, dass die staatlichen Institutionen nicht ausreichend auf die Bewältigung der Katastrophe vorbereitet waren. Unter anderem fehlten einschlägige nationale Programme und die logistische Organisation und Koordinierung der Hilfs- und Rettungsmaßnahmen war ungenügend.
Todesstrafe
Die Gerichte verhängten weiterhin Todesurteile, vor allem wegen Mordes. Marokko hat seit 1993 keine Hinrichtungen mehr vollstreckt.
[1] Morocco: “My Life is Ruined”: The Need to Decriminalize Abortion in Morocco, 14 May ↑
[2] Morocco/Spain: Reveal fate of migrants who remain missing two years after deadly Melilla border incident”, 24 June ↑
[3] Playing a Dangerous Game? Human Rights Risks Linked to the 2030 and 2034 FIFA World Cups, 5 June ↑