Niger
Berichtszeitraum | 1.1.2024 – 31.12.2024 |
Englischer Originaltext | Niger |
Weitere Online-Dokumente von Amnesty International Deutschland | Niger |
Republik Niger
Dutzende Politiker*innen, darunter der abgesetzte Präsident Mohamed Bazoum, wurden willkürlich inhaftiert. Die Rechte auf Information und auf freie Meinungsäußerung wurden regelmäßig verletzt. Bewaffnete Gruppen und Militärs verübten weiterhin Übergriffe auf die Zivilbevölkerung. Frauen und Mädchen wurden weiterhin Opfer der Wahaya-Praxis und der Frühverheiratung. Migrant*innen, darunter ein dreijähriges Mädchen, starben an Erschöpfung, nachdem sie gewaltsam aus Algerien ausgewiesen worden waren. Die Behörden ergriffen Maßnahmen, um den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu verbessern. Sie trafen jedoch keine Maßnahmen, um klimabedingten schweren Überschwemmungen vorzubeugen.
Hintergrund
Der Nationale Rat für den Schutz des Vaterlandes, der im Juli 2023 durch einen Staatsstreich an die Macht kam, löste alle gewählten Gemeinde- und Regionalräte auf und ersetzte sie durch Militärverwalter. Die ECOWAS-Sanktionen gegen Niger, einschließlich der Schließung der Grenzen und der wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen, wurden im Februar aufgehoben. Einen Monat zuvor hatte Niger in einer gemeinsamen Erklärung mit Mali und Burkina Faso seine Absicht bekundet, die ECOWAS zu verlassen.
Im Jahr 2024 bildeten sich zwei Rebellengruppen: die Patriotic Front for Justice und die Patriotic Front for Liberation, die beide Angriffe auf die Ölinfrastruktur verübten.
US-amerikanische und deutsche Truppen verließen Niger nach einer 10-jährigen Präsenz.
Willkürliche Verhaftungen
Mehrere Personen, die Kritik an den Behörden übten, wurden willkürlich festgenommen.
Im Januar wurde Ibrahim Yacouba, ehemaliger Energieminister, bei seiner Rückkehr nach Niger am Flughafen verhaftet. Er wurde der „Verschwörung gegen die Staatssicherheit“ beschuldigt und im Gefängnis von Ouallam inhaftiert. Im Juli ordnete ein Gericht seine vorläufige Freilassung an, doch bis zum Jahresende hatten die nigrischen Behörden das Urteil noch nicht umgesetzt.
Im April leiteten die nigrischen Behörden das Verfahren zur Aufhebung der Immunität des abgesetzten und inhaftierten Präsidenten Mohamed Bazoum ein, um ihn, wie im August 2023 angekündigt, wegen „Hochverrats“ zu belangen. Mohamed Bazoum wurde der Zugang zu seinen Anwälten und zu Informationen über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verweigert.[1] Im Juni hob ein staatliches Gericht seine Immunität auf. Auch die Ehefrau von Mohamed Bazoum wurde Ende des Jahres weiterhin willkürlich im Präsidentenpalast festgehalten.
Im April entschied ein Obergericht in der Hauptstadt Niamey, dass die Inhaftierung von Abdourahmane Ben Hameye und Mohamed Mbarek – beides Sicherheitsbeamte und Verwandte des ehemaligen Präsidenten – sowie von 25 weiteren Personen, darunter Zivilist*innen, die einer Verschwörung zur Befreiung von Mohamed Bazoum und seiner Familie beschuldigt wurden, rechtswidrig war, und ordnete ihre Freilassung an. Zwei Tage nach dem Urteil wurden sie alle einem Richter vorgeführt und wegen „Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates oder gegen die Staatsgewalt“ angeklagt. Die Zivilist*innen wurden vorläufig freigelassen.
Am 13. April wurde Ousmane Toudou, Journalist und ehemaliger Kommunikationsberater des Präsidenten, verhaftet. Er wurde im Mai wegen „Verschwörung gegen die Staatssicherheit“ angeklagt und im Gefängnis von Kollo in Untersuchungshaft genommen. In den Tagen nach dem Staatsstreich vom Juli 2023 hatte Ousmane Toudou die Machtübernahme durch das Militär in den sozialen Medien angeprangert.
Am 26. April verhafteten die Sicherheitskräfte den Aktivisten Ali Marounfa, besser bekannt als „Ali Tera“, nachdem er in einem Interview mit BBC-Hausa über die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Region Tillabéri berichtet hatte.
Im Juni wurde der Politiker Intinicar Alassane verhaftet und wegen „Verbreitung von Daten, die geeignet sind, die öffentliche Ordnung und die Menschenwürde zu stören“ angeklagt, nachdem er ein Videointerview mit Opfern eines bewaffneten Angriffs in der Region Tillabéri geführt hatte, in dem er das Wiederaufflammen der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung anprangerte. Er wurde am 9. Juli zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 5 Millionen XOF (8.300 USD) verurteilt.
Meinungsfreiheit
Am 29. Januar unterband der Innenminister die Aktivitäten der Maison de la Presse, einer unabhängigen Medienorganisation, der verschiedene Presseverbände angehören, und setzte einen neuen Ad-hoc-Verwaltungsausschuss unter der Leitung des Generalsekretärs des Innenministeriums ein.
Am 24. April verhafteten Sicherheitskräfte Soumana Maiga, Herausgeber von L’Enquêteur, nachdem die Zeitung über einen Bericht einer französischen Zeitung über die angebliche Installation von elektronischen Abhörgeräten durch russische Agenten in offiziellen Staatsgebäuden berichtet hatte.[2] Er wurde der „Bedrohung der Landesverteidigung“ beschuldigt und am 9. Juli bis zum Prozess freigelassen.
Am 12. Juni revidierten die nigrischen Behörden die 2022 beschlossenen Änderungen des Gesetzes über Cyberkriminalität aus dem Jahr 2019 und setzten erneut Haftstrafen für die Straftatbestände „Verbreitung, Herstellung und Bereitstellung von Daten, die die öffentliche Ordnung stören oder die Menschenwürde bedrohen können, über ein Informationssystem“ sowie für Verleumdung fest und machten damit frühere Fortschritte bei der Meinungsfreiheit zunichte.
Im August richtete die Regierung ein nationales Register ein, in dem Personen und Gruppen aufgeführt sind, die mit Terrorakten oder Bedrohungen der nationalen Verteidigung in Verbindung gebracht werden. Denjenigen, die in diesem Register aufgeführt sind, droht der Entzug ihrer Staatsangehörigkeit. Ende des Jahres waren mindestens 21 nigrische Staatsangehörige in dem Register aufgeführt, denen vorübergehend die Staatsbürgerschaft entzogen wurde.
Unrechtmäßige Angriffe und Tötungen
Bewaffnete Gruppen
Am 10. Januar griffen mutmaßliche Mitglieder des Islamischen Staates-Provinz Sahel (IS-Sahel) das Dorf Tongo Tongo in der Region Tillabéri an und töteten sechs Zivilist*innen, die beschuldigt wurden, mit der nigrischen Armee zu kollaborieren. Einige Wochen später griffen sie Berichten zufolge das Dorf Motogatta in der Region Tillabéri an und töteten 22 Einwohner*innen.
Am 15. Juli griffen mutmaßliche Mitglieder des IS-Sahel das Dorf Kouregou in der Region Tillabéri an, töteten sieben Zivilisten und zerstörten Läden und anderes Privateigentum, wie humanitäre Quellen berichten. Zwei Tage später entführte eine Boko-Haram-Gruppe in dem Dorf Tourban Guida in der Region Diffa zehn Zivilist*innen, darunter sechs Frauen, und brachte sie nach Nigeria.
Streitkräfte
Im Januar wurden Berichten zufolge bei einem Drohnenangriff der nigrischen Armee auf eine bewaffnete Gruppe rund 50 Zivilist*innen im Dorf Tiawa in der Region Tillabéri getötet.
Frauen– und Mädchenrechte
Frauen und Mädchen sind nach wie vor schädlichen Gewohnheitspraktiken, Gesetzen und sozialen Normen ausgesetzt, obwohl der Oberste Gerichtshof von Niger in einem Urteil aus dem Jahr 2019 die Praxis der Wahaya als rechtswidrig eingestuft hat. Diese Praxis, bei der Mädchen aus diskriminierten Gruppen als „fünfte Ehefrau“ zwangsverheiratet werden, hielt sich in ländlichen Gemeinden hartnäckig. Die Verheiratung von Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag war üblich – das gesetzliche Mindestalter liegt bei 15 Jahren für Mädchen, im Gegensatz zu 18 Jahren für Jungen.
Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
Die Vertreibung von Migrant*innen aus Algerien in die Wüste im Norden Nigers hielt unvermindert an. Nach Angaben von Alarm Phone Sahara wurden zwischen Januar und August mehr als 20.000 Migrant*innen aus Algerien nach Assamaka, eine Stadt in der Region Agadez in Niger, abgeschoben.
Zwischen dem 9. und 13. Mai starben fünf Männer auf dem Weg vom „Point Zero“ an der Grenze zu Algerien zum Dorf Assamaka, einem 15 km langen Fußmarsch. Drei weitere Personen, darunter ein dreijähriges Mädchen, starben in der Krankenstation in Assamaka, offenbar an Erschöpfung.
Recht auf Gesundheit
Im August kündigte die Regierung eine 50-prozentige Ermäßigung der Patientengebühren für medizinische Behandlungen, Labortests, bildgebende Verfahren sowie medizinische und chirurgische Eingriffe an. Die Gebühren für Entbindungen und Dialyse wurden in öffentlichen Krankenhäusern abgeschafft.
Recht auf eine gesunde Umwelt
Niger erlebte außergewöhnliche Regenfälle und Überschwemmungen, bei denen nach offiziellen Angaben mindestens 339 Menschen ums Leben kamen. Im Oktober waren nach Angaben der Regierung 1.176.528 Menschen in 158.399 Haushalten von schweren Überflutungen betroffen. Es fehlte jedoch an Plänen zur Bekämpfung des Hochwassers, und die Bauarbeiten entlang des Flusses Niger, im am stärksten gefährdeten Gebiet, wurden fortgesetzt.
[1] “Niger: Rights in free fall a year after coup”, 25 July
[2] Niger: “Press freedom in jeopardy as journalists working on conflict intimidated and arrested”, 3 May