Tunesischee Republik
Berichtszeitraum | 1.1.2024 – 31.12.2024 |
Englischer Originaltext | Tunisia |
Die Behörden gingen verstärkt gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und alle Formen abweichender Meinungen vor und griffen auf repressive Gesetze und unbegründete Anklagen zurück, um politische Gegner*innen, Journalist*innen, Gewerkschafter*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Rechtsanwält*innen und Kritiker*innen zu verfolgen und willkürlich zu verhaften. Vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober verschärften die Behörden ihre Schikanen gegen politische Gegner, schränkten die Arbeit von Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und NGO weiter ein und unternahmen Schritte, um die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtsstaatlichkeit weiter zu untergraben. Die Behörden verstärkten die Abfangmaßnahmen auf See und führten rechtswidrige Massenabschiebungen von Tausenden von Asylbewerber*innen, Flüchtlingen und Migrant*innen an den Grenzen zu Algerien und Libyen durch. Die Behörden leiteten Ermittlungen gegen mindestens 14 zivilgesellschaftliche Organisationen ein, die sich für die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen einsetzen, und untergruben den Zugang ausländischer Staatsangehöriger zu Asylverfahren und wichtigen Dienstleistungen. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans– und intergeschlechtliche Menschen wurden willkürlich verhaftet und strafrechtlich verfolgt.
Hintergrund
Die ersten Wahlen zum Nationalen Rat der Regionen und Bezirke fanden am 28. und 29. März statt und führten zur Wahl von 77 Mitgliedern des Oberhauses des Parlaments.
Präsident Kais Saied wurde am 6. Oktober mit 90,69 % der Stimmen für eine zweite Amtszeit wiedergewählt, bei einer Wahlbeteiligung von 28 %. Die meisten echten Oppositionskandidat*innen wurden durch bürokratische Hindernisse, gerichtliche Schikanen oder willkürliche Inhaftierung von der Kandidatur ausgeschlossen. Trotz einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts, drei Oppositionskandidaten für die Präsidentschaftswahlen wieder zuzulassen, weigerte sich die Unabhängige Hohe Behörde für Wahlen (ISIE), die Entscheidung umzusetzen, und ließ nur drei Kandidaten zu, darunter Präsident Saied.
Unterdrückung abweichender Meinungen
Der Generalsekretär der Oppositionspartei Ennahdha, Ajmi Lourimi, und zwei weitere Parteimitglieder wurden am 13. Juli bei einer routinemäßigen Polizeikontrolle festgenommen und blieben bis zum Jahresende willkürlich und ohne Anklage in Haft.
Die Menschenrechtsverteidigerin und ehemalige Vorsitzende der Kommission für Wahrheit und Würde (IVD), Sihem Bensedrine, wurde am 1. August unter dem Vorwurf des “Betrugs” und des “Missbrauchs der Amtsgewalt” festgenommen und inhaftiert, weil sie angeblich einen Bericht gefälscht hatte, in dem die Korruption im Bankensektor angeprangert wurde. Ihre Verfolgung schien eine Vergeltung für ihre Rolle bei der Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen als Leiterin der IVD zu sein.
Andere hochrangige Oppositionspolitiker*innen befanden sich weiterhin in Untersuchungshaft oder verbüßten Haftstrafen im Zusammenhang mit politisch motivierten Anschuldigungen wie “Terrorismus” und “Verschwörung gegen die Staatssicherheit”. Im sogenannten “Verschwörungsfall” blieben sechs im Februar 2023 verhaftete Oppositionspolitiker*innen wegen “Verschwörung gegen die Staatssicherheit” über den Ablauf ihrer Untersuchungshaft im April hinaus in willkürlicher Haft. Nach nationalem Recht hätten sie nach der Untersuchungshaft freikommen müssen.
Die Vorsitzende der Oppositionspartei, Abir Moussi, wurde am 5. August gemäß der Gesetzesverordnung 54 über Cyberkriminalität zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die ISIE hatte sie angezeigt, nachdem sie den Ablauf der Parlamentswahlen von 2023 kritisiert hatte. Sie war bereits am 3. Oktober 2023 willkürlich inhaftiert worden, weil ihr gemäß der Gesetzesverordnung 54 und Artikel 72 des Strafgesetzbuches die “Verbreitung falscher Nachrichten” und der “Versuch, die Regierungsform zu ändern“, vorgeworfen wurden, und das nur wegen der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung.
Am 18. Oktober verurteilte die Strafkammer des Gerichts erster Instanz in der Hauptstadt Tunis den Ennahda-Führer und ehemaligen Justizminister Noureddine Bhiri zu zehn Jahren Haft wegen eines Beitrags in den sozialen Medien, dessen Urheberschaft er bestritt. Er wurde gemäß Artikel 72 des Strafgesetzbuchs wegen “Versuchs, die Regierungsform zu ändern und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen” verurteilt. Er war seit Februar 2023 willkürlich in Haft gehalten worden.
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen gingen die Behörden verstärkt gegen oppositionelle Gruppen und politische Gegner vor. Mindestens 97 Mitglieder von Ennahda wurden zwischen dem 12. und 13. September verhaftet.
Freiheit der Meinungsäußerung
Im Januar bestätigte das Berufungsgericht in Monastir die Verurteilung des Künstlers Rached Tamboura zu zwei Jahren Haft für ein Graffiti, das die rassistischen Äußerungen von Präsident Saied über subsaharische Flüchtlinge und Migrant*innen anprangerte. Rached Tamboura wurde wegen “Beleidigung des Präsidenten” gemäß Artikel 67 des Strafgesetzbuchs und “Abfassung und Verbreitung falscher Nachrichten” gemäß Artikel 24 der Gesetzesverordnung 54 über Cyberkriminalität verurteilt.
Am 11. Mai verhafteten Sicherheitskräfte willkürlich die Anwältin und Medienvertreterin Sonia Dahmani. Am 6. Juli wurde sie gemäß Artikel 24 der Gesetzesverordnung 54 wegen ihrer kritischen Äußerungen zur Situation von Migrant*innen in Tunesien zu einem Jahr Haft verurteilt. Am 10. September reduzierte das Berufungsgericht von Tunis ihre Strafe auf acht Monate Haft. Am 24. Oktober verurteilte ein erstinstanzliches Gericht in Tunis sie in einem anderen Fall auf der Grundlage der Gesetzesverordnung 54 zu einer zweijährigen Haftstrafe. Grund für ihre Anklage und Verurteilung waren Äußerungen im Fernsehen, in denen sie den Rassismus gegenüber Schwarzen in Tunesien angeprangert hatte.
Am 11. Mai nahmen Sicherheitskräfte die Journalisten Mourad Zeghidi und Borhen Bsaies fest und inhaftierten sie. Am 22. Mai verurteilte das Gericht erster Instanz in Tunis beide Männer gemäß Artikel 24 der Gesetzesverordnung 54 zu einem Jahr Gefängnis wegen “vorsätzlicher Verwendung von Kommunikationssystemen zur Herstellung und Verbreitung falscher Nachrichten, um die öffentliche Sicherheit oder die Landesverteidigung zu schädigen oder Terror zu verbreiten”. Dabei hatten sie lediglich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen. Im Juli reduzierte das Berufungsgericht in Tunis die Strafe auf acht Monate Haft.
Im Juni hob das Berufungsgericht in Tunis den ursprünglichen Freispruch des Anwalts Abdelaziz Essid auf und verurteilte ihn zu einer neunmonatigen Haftstrafe auf Bewährung wegen “Beleidigung anderer über Telekommunikationsnetze” und “grundlose Beschuldigung von Amtsträgern wegen illegaler Handlungen” gemäß Artikel 86 des Telekommunikationsgesetzes bzw. Artikel 128 des Strafgesetzbuches. Die Anklage stützte sich auf eine Beschwerde des Justizministers wegen der Behauptungen von Abdelaziz Essid, die Behörden hätten die Akte seines Mandanten manipuliert.
Die Wahlkommission erstattete auf der Grundlage der Gesetzesverordnung 54 Strafanzeige gegen Mitglieder der politischen Opposition und Kritiker*innen wegen “Verbreitung von Falschinformationen”. Nach Angaben der Nationalen Union tunesischer Journalist*innen erhielten vier private Radiosender zwischen Juli und September schriftliche Verwarnungen von der Wahlkommission im Zusammenhang mit Berichten und Kommentaren über den Wahlprozess, die in ihren Sendern ausgestrahlt wurden.
Die tunesischen Behörden haben die Verteilung der September-Ausgabe der Zeitschrift Jeune Afrique in Tunesien verboten, die einen Artikel enthielt, in dem Präsident Saied kritisiert wurde.
Vereinigungsfreiheit
Präsident Saied beschuldigte weiterhin öffentlich zivilgesellschaftliche Organisationen der Korruption und der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Tunesiens und bezog sich dabei häufig auf die Finanzierung der Organisationen durch das Ausland.
Im Mai schüchterten die Behörden Vertreter*innen, ehemalige Mitarbeiter*innen und Mitglieder von mindestens 14 Organisationen ein, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen einsetzen und wichtige Dienstleistungen für sie erbringen. Sie nahmen sie fest, luden sie vor und ermittelten gegen sie. Sie sahen sich mit vagen Anschuldigungen konfrontiert, darunter “Finanzkriminalität” und “Unterstützung von Migrant*innen ohne Papiere”. Am Ende des Jahres wurde gegen mindestens sechs Organisationen weiter ermittelt, und sieben Personen befanden sich in Untersuchungshaft.
Am 14. Mai kündigte Premierminister Ahmed Hachani an, dass dem nächsten Ministerrat ein neuer Entwurf für ein Vereinsgesetz zur Genehmigung vorgelegt werde. Dies löste Besorgnis über Pläne der Behörden aus, drakonische Gesetze einzuführen, die die Zivilgesellschaft weiter lähmen würden.
Am 9. September lehnte das ISIE die Anträge zweier tunesischer NGOs, IWatch und Mourakiboun, auf Akkreditierung für die Wahlbeobachtung mit der Begründung ab, dass die Organisationen “verdächtige ausländische Gelder” erhielten.
Freiheit auf friedliche Versammlung
Die Behörden erhoben wiederholt unbegründete Anklagen wegen “Behinderung”, eine wobei es dieser Bestimmung an rechtlicher Klarheit mangelt, um Personen willkürlich zu inhaftieren, strafrechtlich zu verfolgen und zu verurteilen. Dies geschah nur, weil sie ihr Recht auf friedliche Versammlungsfreiheit wahrgenommen hatten, einschließlich des Rechts, eine Gewerkschaft zu gründen und ihr beizutreten sowie einen Streik zu organisieren und sich daran zu beteiligen.
Am 20. Juni lud die Polizei in der Stadt Tabarka die Umwelt- und Menschenrechtsverteidigerin Rania Mechergui zum Verhör vor, und zwar im Zusammenhang mit einer friedlichen Demonstration vom 11. Juni, bei der der Zugang zu Wasser gefordert wurde. Zwischen dem 12. und dem 16. August lud die Polizei im Stadtteil L’Aouina in Tunis 23 Gewerkschafter*innen und Arbeitnehmer*innen im Zusammenhang mit einer Reihe von friedlichen Demonstrationen zwischen dem 5. Juni und dem 9. August vor und verhörte sie. Bei den Demonstrationen ging es um den Status der Beschäftigten, die Löhne und den Zugang zu sozialen Leistungen.
Recht auf ein faires Verfahren
Nach Angaben der tunesischen Richtervereinigung hat der Justizminister zwischen August 2023 und Juni 2024 die Ernennung, Versetzung oder Suspendierung von mindestens 105 Richter*innen und Staatsanwält*innen durch Memoranden der Exekutive ohne Beachtung der rechtlichen Vorschriften angeordnet.
Richter*innen und Staatsanwält*innen, die im Juni 2022 per Präsidialerlass fristlos entlassen worden waren, wurde weiterhin eine Entschädigung verweigert, und sie mussten berufliche und wirtschaftliche Nachteile sowie Rufschädigung hinnehmen. Nachdem 37 der entlassenen Richter*innen am 23. Januar 2023 Einzelklagen gegen den Justizminister eingereicht hatten, wurden keine gerichtlichen Schritte eingeleitet. Die Beschwerden richteten sich dagegen, dass der Minister eine gerichtliche Anordnung zur Wiedereinstellung von 49 der 57 entlassenen Richter*innen und Staatsanwält*innen nicht umgesetzt hatte.
Gegen Anwält*innen, die Mitglieder politischer Oppositionsgruppen vertreten, wurden strafrechtliche Ermittlungen unter fingierten Anschuldigungen wie “Beleidigung anderer” und “Verbreitung falscher Informationen” eingeleitet.
Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant*innen, Asylbewerber*innen und Flüchtlinge nahmen an Häufigkeit und Schwere zu, vor allem gegen Schwarze und Menschen aus Subsahara-Afrika. Fremdenfeindliche und rassistische öffentliche Hassbekundungen, auch von Beamt*innen, waren weiterhin weit verbreitet.
Lebensbedrohliche kollektive Ausweisungen im Schnellverfahren von Migrant*innen, Asylbewerber*innen und Flüchtlingen in die Nachbarländer Algerien und Libyen waren nach wie vor an der Tagesordnung. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung wurde verletzt und die Menschen wurden in verlassenen Gebieten ohne Zugang zu Nahrung und Wasser zurückgelassen. Diese Ausweisungen erfolgten häufig nach gewaltsamen oder rücksichtslosen Aufgriffen auf See durch tunesische Behörden oder nach rassistisch motivierten und willkürlichen Verhaftungen. Zwischen Juni 2023 und Mai 2024 wiesen die Behörden insgesamt mindestens 10.000 Migrant*innen, Asylsuchende und Flüchtlinge nach Algerien und Libyen aus, darunter auch Kinder und schwangere Frauen.
Migrant*innen, Asylbewerber*innen und Flüchtlinge berichteten über Folter und andere Misshandlungen, darunter Vergewaltigung, gewaltsame oder schikanöse Leibesvisitationen, Schläge und Inhaftierung unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen durch tunesische Sicherheitskräfte.
Die Behörden führten auch zahlreiche Zwangsräumungen mit unnötiger und unverhältnismäßiger Gewalt durch und verhafteten und verurteilten Vermieter*innen, weil sie Menschen ohne Papiere untergebracht hatten. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR haben die Verhaftungen und Ermittlungen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen und Organisationen, die mit Flüchtlingen und Migrant*innen arbeiten, seit Mai den Zugang zu Asylverfahren und grundlegenden Dienstleistungen erheblich beeinträchtigt.
Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI)
LGBTI-Gruppen berichteten über eine Zunahme der strafrechtlichen Verfolgung von einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen, auf der Grundlage von Artikel 230 des Strafgesetzbuchs sowie anderen Artikeln, die sich auf die “gute Moral” oder den “öffentlichen Anstand” beziehen. Die Behörden führten bei Männern, die gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen beschuldigt wurden, Analuntersuchungen durch, eine Praxis, die der Folter gleichkommt. Im Laufe des Jahres wurden in ganz Tunesien mindestens 41 Gerichtsverfahren gegen homosexuelle und transsexuelle Menschen eingeleitet. Zwischen dem 26. September und dem 2. Oktober wurden mindestens 27 LGBTI-Personen in Tunis, Sousse und Hammamet verhaftet.
Die Behörden schikanierten queere Aktivist*innen sowie Mitglieder und Mitarbeiter*innen von Vereinigungen für LGBTI-Rechte. Am 18. September erhielt die Trans-Aktivistin Mira Ben Salah, Koordinatorin der Vereinigung DAMJ, eine Vorladung, am 10. Oktober bei der Kriminalpolizei in Sfax vorstellig zu werden, ohne weitere Informationen. In der Folge wurden polizeiliche Ermittlungen gegen vier Aktivist*innen anderer Vereinigungen für LGBTI-Rechte eingeleitet, die ebenfalls Vorladungen zur Vernehmung bei verschiedenen Justizbehörden erhielten.
Rechte von Frauen und Mädchen
Die politische Partizipation von Frauen ging weiter zurück: Im März wurden nur 10 Frauen in das 77-köpfige Oberhaus gewählt.
Frauenrechtsgruppen prangerten weiterhin die Kultur der Straflosigkeit bei Gewalt gegen Frauen an sowie die fehlende wirksame Umsetzung des Gesetzes 58 von 2017 zum Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Frauenrechtsorganisationen meldeten zwischen Januar und August mindestens 15 Femizide.
Der tunesische Verband der demokratischen Frauen verzeichnete einen Anstieg der Hilfeersuchen von Frauen, die von Online-Gewalt betroffen sind. UN Women dokumentierte, dass 19 % der Frauen in Tunesien von Online-Gewalt betroffen waren.
Recht auf Nahrung
Nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik stiegen die Lebensmittelpreise in Tunesien zwischen Januar und September um 9,2 %. Grundnahrungsmittel waren weiterhin knapp. Die Behörden machten keine Angaben zu den Ursachen der anhaltenden Knappheit oder zu ihren Maßnahmen zur Lösung des Problems.