Ungarn

Ungarn

Berichtszeitraum 1.1.2024 – 31.12.2024
Englischer Originaltext Hungary

Eine neue staatliche Behörde nahm zivilgesellschaftliche Organisationen, unabhängige Medien und Aktivist*innen ins Visier. Tausende von Menschen, die aus der Ukraine flohen, verloren ihre staatlich geförderten Wohnungen in Ungarn. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) verhängte eine hohe Geldstrafe gegen Ungarn, weil die gemeinsame Migrationspolitik der EU nicht angewendet und Asylbewerbern der Zugang zu Schutz verweigert wird. Die repressive Gesetzgebung übt weiterhin eine weitreichende und abschreckende Wirkung auf LGBTI-Personen aus.

Hintergrund

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte fest, dass Ungarn nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt, indem es die Beihilfe zum Selbstmord oder zur Sterbehilfe verbietet. Dies gilt auch dann, wenn die Hilfe in einem ausländischen Staat geleistet wird. Nach jahrelangen Konflikten mit der zentralen Verwaltung der ungarischen Gerichte wählten im Januar 128 Richterdelegierte 14 neue Mitglieder des Nationalen Justizrats. Dieser hat die Aufgabe, die rechtmäßige Tätigkeit der zentralen Verwaltung der Gerichte und des Obersten Gerichtshofs zu überwachen.

Meinungsfreiheit

Im Februar begann eine neue Behörde, das sogenannte Amt zum Schutz der Souveränität, gegen Organisationen und Einzelpersonen zu ermitteln, die als Bedrohung der nationalen Souveränität angesehen werden könnten. Die Behörde verfügt über einen breiten Ermessensspielraum, um regierungskritische Personen zu stigmatisieren und einzuschüchtern. Die Behörde leitete Ermittlungen gegen Nichtregierungsorganisationen, darunter Transparency International Ungarn, und ein investigatives Medienunternehmen ein. Die von der Behörde veröffentlichten Berichte kamen zu dem Schluss, dass Transparency International und andere zivilgesellschaftliche Organisationen ausländischen Interessen dienten und den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen Ungarns schadeten.

Aufgrund von Bedenken über die Tätigkeit des Amtes für den Schutz der Souveränität leitete die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein und verklagte das Land im Oktober vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Trotz mehrerer Aufrufe der Zivilgesellschaft beantragte die Kommission beim Gericht keine einstweilige Anordnung.  Ende des Jahres war das Verfahren noch nicht abgeschlossen.

Unmenschliche Haftbedingungen

Im November kippte das ungarische Parlament ein seit 2017 geltendes Verbot des körperlichen Kontakts zwischen Gefangenen und ihren Besuchern. Obwohl die Trennwände aus Plexiglas unter bestimmten Voraussetzungen beibehalten werden, würden die ab März 2025 geltenden neuen Regeln rund 5.000 Gefangenen einen intimeren und persönlicheren Kontakt mit ihren Angehörigen ermöglichen.

Die Änderungen erfolgten aufgrund einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2023, die das Verbot aufgehoben hatte.

 Übermäßige und unnötige Gewaltanwendung

Nach einem Todesfall in Polizeigewahrsam im Jahr 2018 hob der Oberste Gerichtshof im April das frühere Urteil auf, mit dem ein Polizeibeamter freigesprochen worden war, und ordnete eine neue Untersuchung an, um zu prüfen, ob die Polizei unrechtmäßige Gewalt angewendet hatte.

Rechte von Frauen und Mädchen

Im vom Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen veröffentlichten Gleichstellungsindex 2024 belegt Ungarn den 26. Platz unter den 27 EU-Mitgliedstaaten in der Gesamtbilanz. Ungarn ist sogar Schlusslicht bei der Gleichstellung der Geschlechter in politischen und wirtschaftlichen Machtpositionen. Eine im November veröffentlichte EU-Umfrage ergab, dass 55% der ungarischen Frauen schon einmal mit geschlechtsspezifischer Gewalt konfrontiert waren und dass 8 % der Frauen derzeit in einer missbräuchlichen Beziehung leben.

Unrechtmäßige gezielte Überwachung

Im März stellte das Budapester Stadtgericht fest, dass die Nationale Behörde für Datenschutz und Informationsfreiheit die Menschenrechte von vier Bürger*innen verletzt hat, die von der Spähsoftware Pegasus überwacht wurden, weil sie deren Beschwerden nicht wirksam untersucht hat.

Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen

Der vorübergehende Schutz für Menschen, die aus der Ukraine fliehen, wurde bis zum 4. März 2025 verlängert. Die Regierung beschloss jedoch, dass nach dem 21. August nur noch schwangere Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderungen und Personen ab 65 Jahren, die aus „aktiven Kampfgebieten“ in der Ukraine fliehen, Anspruch auf staatlich geförderte Wohnungen haben. Infolge dieser Änderungen verloren etwa 3.000 Menschen ihre Wohnung; die meisten von ihnen waren Frauen mit kleinen Kindern, viele von ihnen Roma.   Im Juni verhängte der EuGH eine Geldstrafe in Höhe von 200 Mio. EUR (ca. 80 Mrd. HUF) gegen Ungarn, weil es die Umsetzung der gemeinsamen EU-Migrationspolitik vorsätzlich vermieden hatte, indem es Menschen nicht erlaubte, an der Grenze Asyl zu beantragen. Zusätzlich wurde Ungarn mit einer Geldstrafe von 1 Mio. EUR (ca. 400 Mio. HUF) pro Tag belegt. Diese Strafe wird aufrechterhalten bis Ungarn seine derzeitige Gesetzgebung ändert, welche das oft gewaltsame Zurückdrängen von Asylbewerbern an den Grenzen des Landes erlaubt.

Recht auf ein faires Verfahren

Ungarn hat keinen Versuch unternommen, die Empfehlungen des Rechtsstaatlichkeitsberichts der Europäischen Kommission zur Behebung der systematischen Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz, die Medienfreiheit und die Korruptionsbekämpfung im Land umzusetzen.

Im Dezember trat der Präsident des Nationalen Justizrates zurück, nachdem etwa 2.000 Richter*innen und Gerichtsbedienstete gegen eine Vereinbarung protestiert hatten, die ihre Zustimmung zu einem vagen formulierten Vorschlag für eine Justizreform als Voraussetzung für eine Gehaltserhöhung vorsah. Richter*innen und Justizorganisationen bezeichneten die Vereinbarung als „Erpressung“ und kritisierten den Vorschlag der Regierung in der Befürchtung dass die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet werden könnte. Dennoch nahm das Parlament im Dezember einige Elemente der Reform an.

Rechte von LGBTI-Personen

Zusätzlich zu ihrer laufenden Anti-LGBTI-Kampagne führte die Regierung weitere Beschränkungen für Veröffentlichungen oder Produkte ein, bei denen davon ausgegangen wurde, dass ihr „bestimmendes Element“ LGBTI-Themen oder Sexualität darstellt oder fördert. Die Änderungen verunsicherten Unternehmen und führten zu einem Abschreckungseffekt und der Wahrscheinlichkeit einer verstärkten Selbstzensur.

Der EuGH hielt im November eine Anhörung im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens der Europäischen Kommission gegen das ungarische Anti-LGBTI-Propagandagesetz von 2021 ab. Das Gesetz hat nach wie vor weitreichende Auswirkungen auf LGBTI-Personen und -Gruppen, indem es negative Stereotypen und diskriminierende Haltungen verfestigt und das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkt. Vertreter*innen der Regierungen und des Europäischen Parlaments aus 16 Mitgliedstaaten traten bei der Anhörung vor dem EuGH auf.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Ungarn belegte 2024 den 45. Platz im Climate Change Performance Index, welcher die Fortschritte der 67+EU größten CO2 Emittenten zum Klimaschutz bewertet. Ungarn gehörte damit zu den Schlusslichtern, insbesondere bei der Nutzung erneuerbarer Energien. Die ungarische Klimapolitik steht zwar im Einklang mit den EU-Zielen, ist aber vage und es fehlt an umsetzbaren Maßnahmen. Trotz der zunehmenden Installation von Solarzellen und der Aufhebung des Verbots von Windturbinen plante Ungarn, die inländische Produktion von fossilem Gas zu erhöhen und die Betriebsdauer eines Kohlekraftwerks, das für 14 % der ungarischen CO2-Emissionen verantwortlich ist, bis 2030 zu verlängern.

2. Juni 2025